„Ich habe Moses getötet“
Zum Prozess-Auftakt des Mordprozesses in Tuttlingen wird erstmals klar, dass sich Täter und Opfer gekannt haben
ROTTWEIL/TUTTLINGEN - Die rätselhafte Ermordung eines 52-jährigen Mannes am frühen Morgen des 15. September 2020 auf offener Straße unweit der Tuttlinger Stadthalle hat in der Bevölkerung Entsetzen, Ängste und Unsicherheit ausgelöst. Seit dem gestrigen Montag muss sich der mutmaßliche Täter vor der 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil verantworten. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass ihn wegen einer schweren psychischen Erkrankung keine Haftstrafe, sondern die Einweisung in eine psychiatrische Klinik erwartet.
In dieser (vorläufigen) Einschätzung waren sich zum gestrigen Auftakt das Gericht und die Staatsanwaltschaft einig. Sie berufen sich auf die klare ärztliche Diagnose: „paranoide, halluzinatorische Schizophrenie“. Deshalb kommt es nicht zum üblichen Prozess, sondern zu einem „Sicherungsverfahren“mit dem Ziel, eine Einweisung in die Psychiatrie juristisch abzusichern. Dafür ist eine Beweisaufnahme im üblichen Umfang nötig.
Dazu hat das Gericht mit Prof. Klaus Hoffmann, früherer Direktor des Zentrums für Psychiatrie Reichenau, einen zweiten Sachverständigen hinzugezogen. „Der Fach-Diskurs kann die Erkenntnisse der Kammer verbreitern“, erklärte Karlheinz
Münzer, der Vorsitzende Richter. Vor und nach dem Mord habe es „zwei abweichende Gutachten“gegeben. Das ist der vielleicht der brisanteste Aspekt dieses Verfahrens; hätte der Tod des Mannes verhindert werden können?
Tatsächlich war Prof. Charalabos Salabasidis, der erfahrene psychiatrische Sachverständige, innerhalb kurzer Zeit zu unterschiedlichen Einschätzungen gekommen. Oberstaatsanwalt Michael Gross machte in seiner Anklageschrift deutlich, wie gespenstisch die Szene war und wie brutal die Tat an jenem SeptemberMorgen abgelaufen sein muss: Kurz nach 5.30 Uhr sei das Opfer, ein 52jähriger Mann italienischer Staatsangehörigkeit in der Hermannstraße auf dem Weg zur Arbeit gewesen, als ihn der 36-jährige Täter von hinten durch einen Stich in den Hals angefallen und niedergestreckt habe. Dann habe der tunesisch-stämmige Mann seinem auf dem Boden liegenden Opfer noch die Vorderseite des Halses durchgeschnitten. Der schwer blutende Mann habe es noch geschafft aufzustehen, ein paar Meter zu laufen und sei schließlich zusammengesunken und an einem Blutschock gestorben.
Der Angeklagte legte ein umfassendes Geständnis ab, stellte aber den Ablauf der Tat anders dar: Er sei auf seinen Kontrahenten zugelaufen. Der habe daraufhin ein Klappmesser herausgezogen, das er ihm abgenommen und dann zugestochen habe.
Eindeutig klar wurde, dass es keine Zufallstat, sondern eine Beziehungstat war. Die beiden Männer kannten sich durch Drogengeschäfte und gemeinsamen Drogenkonsum. Mit fortlaufender Zeit und fortlaufender Verschlimmerung der psychischen Krankheit fühlte sich der Jüngere vom Älteren bedrängt, doch am Montag blieb unklar, ob die Schilderungen des Angeklagten über die Hintergrunde Realität waren oder bloß Einbildung, die seinen Wahnvorstellungen zuzuschreiben waren.
Immer wieder, so erklärte der Tunesier in gutem Deutsch, habe ihn sein Bekannter bedrängt: „Entweder du tötest deine Frau oder ich töte dich!“Er habe sich so sehr unter gesetzt Druck gefühlt und habe seine Frau, die sich längst von ihm getrennt hatte, schützen müssen. Danach ging der mutmaßliche Täter, der damals obdachlos war, zu einem Bekannten und schlief sich aus.
Seine Tat gestand er ihm mit den Worten, die auf seine Wahnvorstellungen hinweisen: „Ich habe Moses getötet!“
Weiterer Bericht folgt.