Eine Dreiecksbeziehung und die europäische Kultur
Orlando Figes beschreibt, wie das Ehepaar Pauline und Louis Viardot und Iwan Turgenjew die Kunst des Westens und Russlands einander näherbrachten
Orlando Figes ist Historiker und gehört in England zu den führenden Vertretern seines Faches. Sein neuestes Werk zur Entstehung einer europäischen Kultur im 19. Jahrhundert erfüllt mit seiner fast übergroßen Fülle an historischen Details und Quellenhinweisen durchaus auch geschichtswissenschaftliche Ansprüche, hat aber zudem einen beachtlichen Unterhaltungswert. Dies liegt vor allem daran, dass sich eine veritable Ménageà-trois zwischen der spanischen Opernsängerin Pauline Viardot, deren französischem Ehemann Louis und dem russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew wie ein roter Faden durch das 600-Seiten-Opus zieht. Jahrzehntelang, nur durch gelegentliche kurze Irritationen unterbrochen, blieben die drei eng verbunden, zeitweise teilten sie sich sogar die Wohnung. Freilich handelte es sich dabei um weit mehr als eine persönliche Angelegenheit der Beteiligten. Das Ehepaar Viardot und Iwan Turgenjew, alle überzeugte Kosmopoliten, wurden in dieser Konstellation auch zu wichtigen Protagonisten der Entwicklung einer europaweiten Kultur.
Pauline, die berühmteste Primadonna ihrer Zeit, die mit den Großen der damaligen Musikszene, Chopin, Liszt, Brahms, Clara und Robert Schumann, Meyerbeer, Gounod und anderen, freundschaftlichen, mit einigen wohl auch innigeren Kontakt pflegte, riss nicht nur das Publikum in der Mailänder Scala, der Pariser Oper und dem Covent Garden in London zu Beifallsstürmen hin. Sie begeisterte bei ihren Auftritten in St.
Petersburg und Moskau auch die russische Gesellschaft insbesondere für die italienische Oper.
Ihr Ehemann Louis Viardot, Journalist und Kunstsammler, verhalf Malern aus Russland zu ersten Ausstellungen in Paris, und Iwan Turgenjew engagierte sich intensiv für einen literarischen Austausch zwischen seiner Heimat und dem westlichen Europa. Ihm hatte es auch Leo Tolstoi entscheidend zu verdanken, dass sein Roman „Krieg und Frieden“in Frankreich, Deutschland und England zum Bestseller wurde.
So groß das Engagement dieses Trios für eine europäische Kultur war, es hätte nicht diese Wirkung entfalten können, wenn es nicht gleichzeitig zu bedeutenden technischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Neuerungen gekommen wäre. Diesen Zusammenhang hat Orlando
Figes in seinem Buch umfassend dargestellt. Es ist auch das Besondere an diesem Werk.
Eine herausragende Rolle spielte der Ausbau des Eisenbahnnetzes, von dem Goethe schon sagte, es sei die einigende Kraft Deutschlands. Nun konnten Theater- und Opernensembles viel schneller ihre Auftrittsorte wechseln. Die Reise von Paris nach St. Petersburg beispielsweise verkürzte sich von drei Wochen auf drei Tage. Aber nicht nur Menschen gingen zunehmend auf Reisen, auch Gemälde und Skulpturen wurden mit dem neuen Verkehrsmittel zu Ausstellungen in Museen und Galerien anderer Länder befördert. Die Erfindung der Fotografie und die Entwicklung neuer Drucktechniken förderten eine europaweite Verbreitung literarischer Werke und bebilderter Kunstund Reiseführer sowie von Partituren der Komponisten. Zugleich entstand erstmals ein kulturelles Unternehmertum. Dazu zählten Impresarios, Konzertveranstalter, Kunsthändler, Galeristen und Verleger, die sich professionell um die Beziehungen über Ländergrenzen hinweg kümmerten.
Dass sich dieser Aufbruch in eine neue Zeit in einigermaßen geordneten Bahnen vollziehen konnte, hängt nicht zuletzt mit der Schaffung eines Urheberrechts zusammen, welches das bis dahin übliche Unwesen des Raubdrucks von literarischen Texten,
Kunstwerken und Partituren zumindest deutlich erschwerte. Orlando Figes lässt aber auch eine negative Folge des rechtlichen Schutzes nicht unerwähnt. Die Komponisten, die zuvor für jede Oper nur einmalig honoriert wurden, bezogen nun auch Tantiemen für spätere Aufführungen. Aber dieser Geldsegen bremste offensichtlich ihren Arbeitseifer. Das bekannteste Beispiel stammt von Giuseppe Verdi. Zwischen 1839 und 1860, dem Jahr der Verabschiedung des neuen Urheberrechtsgesetzes in Italien, komponierte Verdi 24 Opern, danach bis 1893 nur noch fünf.
Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur. Hanser Berlin. 639 Seiten. 34 Euro.