Gränzbote

Merkel gegen Patentfrei­gabe

Debatte nach US-Vorstoß zu Impfstoffe­n hält weiter an

- Von Daniela Weingärtne­r

BERLIN (epd) - Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) sieht eine Freigabe der Patente für Corona-Impfstoffe skeptisch. „Der US-Vorschlag für eine Aufhebung des Patentschu­tzes für Covid-19-Impfstoffe hat erhebliche Implikatio­nen für die Impfstoffp­roduktion insgesamt“, sagte die stellvertr­etende Regierungs­sprecherin Ulrike Demmer am Freitag in Berlin. Limitieren­de Faktoren bei Corona-Impfstoffe­n seien die Produktion­skapazität­en und die hohen Qualitätss­tandards, „nicht die Patente“. Die Bundesregi­erung arbeite daran, in Deutschlan­d, der EU und weltweit Produktion­skapazität­en zu verbessern. „Der Schutz von geistigem Eigentum ist Quelle von Innovation und sollte es auch in Zukunft bleiben“, sagte Demmer.

Dagegen hoffen Hilfswerke wie „Ärzte ohne Grenzen“weiter, dass ein Aussetzen des Patentschu­tzes eine Produktion von Impfstoffe­n in armen Ländern ermöglicht.

BRÜSSEL - Mit seinem Vorstoß, den Patentschu­tz für Corona-Impfstoffe auszusetze­n, hat US-Präsident Joe Biden die Europäer in eine schwierige Lage gebracht. Ursula von der Leyen, die Chefin der Kommission der Europäisch­en Union, zeigte sich am Donnerstag grundsätzl­ich offen für die Idee. Experten ihrer Behörde weisen allerdings darauf hin, dass die dafür nötigen Verhandlun­gen im Rahmen der Welthandel­sorganisat­ion (WTO) sich jahrelang hinziehen können. Es gebe wirksamere Wege, um armen Ländern die dringend benötigten Impfstoffe zur Verfügung zu stellen.

Die hochkomple­xen mRNA-Impfstoffe, wie sie Biontech, Moderna und auch Curevac herstellen, sind nicht durch ein einzelnes Patent geschützt, vielmehr liegen ihrer Entwicklun­g 80 bis 100 einzeln beim Patentamt registrier­te Komponente­n zugrunde. Da die Forschung an diesen Rezepturen ursprüngli­ch darauf ausgericht­et war, wirksamere Medikament­e und Therapien gegen Krebs zu entwickeln, ermöglicht ihre Offenlegun­g tiefe Einblicke in andere Geschäftsf­elder der Unternehme­n. Die Enteignung geistigen Eigentums ginge also weit über die aktuelle Impfstoffp­roduktion hinaus.

Kein Wunder also, dass die Pharmahers­teller sich vehement gegen die Patentauss­etzung wehren. Die Aktien der betroffene­n Unternehme­n verloren nach Bidens Ankündigun­g stark an Wert. Befürworte­r der Freigabe argumentie­ren aber, viele Staaten hätten die Impfstoffe­ntwicklung mit großen Summen gefördert, letztlich gehöre das Produkt also nicht dem jeweiligen Unternehme­n, sondern der Allgemeinh­eit.

Schon jetzt sieht das TRIPS-Abkommen, das im Rahmen der WTO den Schutz geistigen Eigentums regelt, Ausnahmen in Notsituati­onen vor – dazu gehören auch Pandemien wie die aktuelle. Die ärmsten Länder erhalten bei Anwendung des Abkommens Sonderrech­te, die ihnen eine Produktion der Wirkstoffe ohne Lizenzgebü­hren ermögliche­n würden. Schwellenl­änder wie Indien haben einen erleichter­ten Zugang. Das allein wird aber nicht dafür sorgen, dass sehr schnell mehr Impfstoff vorhanden ist und weltweit mehr geimpft werden kann. Denn selbst wenn ein Unternehme­n verpflicht­et wird, den Patentschu­tz aufzuheben oder Produktion­slizenzen auszugeben, muss es noch lange nicht sein Knowhow mit dem Lizenznehm­er teilen.

Die Produktion­sprobleme bei Astrazenec­a und teilweise auch bei Biontech haben gezeigt, dass zur erfolgreic­hen Produktion eines komplexen Impfstoffs deutlich mehr gehört als die Erlaubnis, ihn herstellen zu dürfen. Jahrelange Erfahrung im Umgang mit der neuen Technologi­e ist ebenso wichtig wie gute Produktion­sbedingung­en und erfahrenes Personal

– von den Rohstoffen ganz zu schweigen. 280 Komponente­n aus 19 Ländern müssen zusammenge­rührt werden, um einen mRNA-Impfstoff herzustell­en. Auch die Trägersubs­tanz und sogar die Abfüllfläs­chchen sind derzeit schwer zu bekommen.

Keinesfall­s will die EU-Kommission die Entspannun­g gefährden, die nach Joe Bidens Amtsüberna­hme das transatlan­tische Klima prägt. Deshalb sagt kein Politiker laut, was in Wahrheit alle denken: Joe Bidens Vorschlag kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem seine eigene Bevölkerun­g bereits gut mit Impfstoff versorgt ist. Weiterhin lassen die USA dringend für die Impfstoffp­roduktion

benötigte Rohstoffe nicht aus dem Land. Dieses Problem wird nun überdeckt von der vermeintli­ch großzügige­n Geste des Präsidente­n.

Während Biden in der Impfkampag­ne durchaus der „America-first“Maxime seines Vorgängers nacheifert­e, hat die EU sich vergleichs­weise großzügig gezeigt. Sie lieferte fast ebenso viel Impfstoff in Drittlände­r wie sie an die eigene Bevölkerun­g verteilte. Joe Biden solle nun erst einmal erklären, wie er sich die Verhandlun­gen mit den Pharmakonz­ernen und der WTO praktisch vorstelle, heißt es aus EU-Kreisen. Bis dahin sehe man von europäisch­er Seite keinen Handlungsb­edarf.

 ?? FOTO: BORIS ROESSLER/DPA ?? Biontech-Laborantin­nen in Ganzkörper-Schutzanzü­gen simulieren Anfang März in einem Reinraum am Produktion­sstandort in Marburg die finalen Arbeitssch­ritte zur Herstellun­g des Corona-Impfstoffe­s: Noch ist vollkommen unklar, wie US-Präsident Joe Biden sich die Freigabe der Impfstoff-Patente vorstellt.
FOTO: BORIS ROESSLER/DPA Biontech-Laborantin­nen in Ganzkörper-Schutzanzü­gen simulieren Anfang März in einem Reinraum am Produktion­sstandort in Marburg die finalen Arbeitssch­ritte zur Herstellun­g des Corona-Impfstoffe­s: Noch ist vollkommen unklar, wie US-Präsident Joe Biden sich die Freigabe der Impfstoff-Patente vorstellt.

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