Das Gesicht der Weißen Rose
Sophie Scholl ist zur Ikone des deutschen Widerstands gegen Hitler geworden – Doch in jüngster Zeit wird dieses Vorbild für Zivilcourage missbraucht
- Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist gut erforscht und das Gedenken an die Mutigen, die aufbegehrten, fest verankert im gesellschaftlichen Kontext. Aber nach wie vor gibt es eine Hierarchie im kollektiven Gedächtnis, die – neben dem militärischen Widerstand des 20. Juli – die Studenten der Weißen Rose anführen. Aus jenem Kreis mit Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und Kurt Huber wiederum wurden vor allem die Geschwister Scholl bekannt. Ihr Name steht für den Aufstand aufrechter junger Menschen gegen ein verbrecherisches Regime. Sophie Scholl ist zum Gesicht der Weißen Rose geworden. Am 9. Mai vor 100 Jahren wurde sie in Forchtenberg geboren. Am 22. Februar 1943 wurde sie zusammen mit ihrem Bruder und Christoph Probst vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt und in München-Stadelheim enthauptet. Ihr Leben und Nachleben wie das ihrer Geschwister ist eng mit der Stadt Ulm verbunden.
Über keine Widerstandskämpferin ist mehr publiziert worden als über Sophie Scholl. In den Biografien jüngeren Datums von Barbara Beuys, Maren Gottschalk und Robert M. Zoske, um nur einige zu nennen, wird Sophies Werdegang minutiös dargestellt – von den Kinderjahren in Forchtenberg über die Mädchenzeit in Ludwigsburg, das Erwachsenwerden in Ulm, ihre Rolle beim Bund deutscher Mädel, ihre Liebe zu Fritz Hartnagel, ihre Kindergärtnerinnen-Ausbildung in Ulm-Söflingen, ihr Leiden am Reichsarbeitsdienst in Krauchenwies. Und schließlich die letzte Phase als Studentin der Philosophie und Biologie in München von Frühjahr 1942 bis zu ihrer Hinrichtung am 22. Februar 1943. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen und Briefen ist alles zu erfahren, was sie gelesen und gehört, was sie erfreut und was sie erzürnt hat.
Sophie Scholl ist zu einer Ikone geworden. Und zu einer Projektionsfläche. Der Impuls, über sie zu schreiben, wird oft vom pädagogischen Impetus grundiert, jungen Mädchen und Frauen positive Identifikationsangebote zu machen. Was gut gemeint ist, kann aber auch zu Ergebnissen führen wie die jüngsten Vereinnahmungen des Widerstands der Weißen Rose durch die neue Rechte: „Sophie Scholl würde AfD wählen.“Bei einer „Querdenker“-Demo in Hannover trat eine „Jana aus Kassel“ans Mikro und bekannte dreist, sie fühle sich wie die von den Nazis Ermordete, weil auch sie seit Monaten „aktiv im Widerstand“sei. Die Ulmer Initiative „Querdenken 731“warb auf ihren Plakaten explizit mit dem Redner Julian Aicher als Neffen der Geschwister Scholl. Derselbe übrigens, der sich vergangenen Sommer nach einer Kundgebung in Leutkirch mit einer weißen Rose bei Polizisten für ihren Dienst bedankt hat! Ein Bruder Aichers und seine Cousins haben sich von dieser „historisch-politischen Erbschleicherei“öffentlich distanziert.
Es ist interessant, welche historischen Erinnerungen in unserem Gedächtnis so präsent sind, dass sich die öffentliche Kommunikation heute noch darauf beziehen kann. Sophie Scholl stand nicht von Anfang an im Zentrum des Interesses. Jahrzehntelang wurde sie „nur“als Teil des Gesamtpakets „Geschwister Scholl“wahrgenommen. Dass die Mitglieder der Weißen Rose, die von Herbst 1942 bis Februar 1943 sechs regimekritische Flugblätter verfasst und in Umlauf gebracht hatten, überhaupt so bekannt geworden sind, hat mehrere Gründe. Der Schriftsteller Thomas Mann würdigte diesen Widerstandskreis am 27. Juni 1943 in seiner BBC-Rede. Der Literaturnobelpreisträger unterstützte den Widerstand aus dem Exil mit Ansprachen bei dem britischen Radiosender. Die Royal Air Force warf im Juli 1943 über dem Ruhrgebiet Millionen Kopien des sechsten Flugblattes ab. Doch die Popularität der Geschwister Scholl ist vor allem das Verdienst von Inge AicherScholl (1917 - 1998). Die ältere Schwester von Hans und Sophie begann unmittelbar nach deren fürchterlichem Tod, alles zu sammeln, was sie über die beiden finden konnte. Inge war nicht eingeweiht in die Aktionen der Weißen Rose. Die Recherche wurde ihr zur Lebensaufgabe. Seit 2005 ist ihr Nachlass im Institut für Zeitgeschichte in München einsehbar. Alle neuen Publikationen beruhen darauf. An Quellenmaterial ist kein Mangel. Allerdings kann man sich bei der Lektüre einiger Publikationen gelegentlich nicht des Eindrucks erwehren, dass mancher Tagebucheintrag, manche Briefstelle überbewertet wird und der Aufklärungswille nicht jedes Ausbreiten intimer Details rechtfertigt.
Zu Lebzeiten von Inge AicherScholl wäre das undenkbar gewesen. Denn zum Ärger von Historikern und Journalisten wachte sie streng über jede Publikation und zögerte nicht, zu intervenieren. Ihr eigenes Buch „Die Weiße Rose“, das 1952 zum ersten Mal im Verlag der Frankfurter Hefte erschien, sollte die letztgültige Darstellung sein – und bleiben. Dieses Ziel verfolgte sie lange Zeit. Die Historikerin Christine Hikel hat in ihrer Dissertation die zahlreichen, von Inge Aicher-Scholl immer wieder überarbeiteten Neuausgaben untersucht. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Zeitzeugin stets auf die sich verändernden Zeitkontexte reagiert hat. „Die Herstellung von Gegenwartsbezug, der für große Teile der jeweiligen Gesellschaft nachvollziehbar und akzeptabel ist, kristallisierte sich als das entscheidende Kriterium dafür heraus, dass Erinnern funktioniert.“
Scholls Buch begründete den Mythos der Weißen Rose und erzählte vom Widerstand in einer Art Heiligengeschichte; die Akteure sind Märtyrer, sie opfern sich für das Gute. Und werden auch als irrende Menschen gezeigt, die durch Verinnerlichung zu Humanismus und Christentum zurückfinden. „Verklärende Literatur“nennt das der bekannte Zeithistoriker Wolfgang Benz. Solche Hagiografien vom tödlichen Aufbegehren einiger weniger hätten die „deutsche Lebenslüge nach 1945“bedient, wonach Widerstand gegen das Regime unmöglich gewesen wäre.
Die Geschwister Scholl warfen am 18. Februar 1943 Flugblätter in den Lichthof der Universität München. Unmittelbar danach wurden sie verhaftet. Der Historiker Benz ist sich in der Einordnung der Aktion einig mit einem der engsten Freunde der Scholls: Otl Aicher, der spätere Ehemann von Inge Scholl, der großen Einfluss auf die geistige Entwicklung aller Geschwister gehabt haben soll, nennt die Aktion eine „Dummheit“, Benz bezeichnet sie als „leichtsinnig“.
In der wissenschaftlichen Literatur wird der Einfluss Sophie Scholls auf den Inhalt der Flugblätter eher gering eingeschätzt. Die ersten vier haben wohl Alexander Schmorell und Hans Scholl verfasst, die letzten beiden tragen die Handschrift von Professor Kurt Huber. Aber am Austausch der Gedanken war Sophie Scholl beteiligt und auch daran, die Flugblätter zu verteilen.
Das Gedenken an die Weiße Rose beginnt früh. Im November 1945 bereits findet eine Feier in der Universität München statt. Und Inge Scholl überlegt Ende der 1940er-Jahre, das Medium Film zu nutzen, um die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Sie wollte, dass Carl Zuckmayer das Drehbuch schreibt. Der Produzent Arthur Brauner war interessiert. Aber dann überwogen die Bedenken der Angehörigen vor einer Banalisierung und Trivialisierung des Geschehens. Gerade auch angesichts von Spielfilmen zum Widerstand des 20. Juli, die 1954 und 1955 ins Kino kamen.
Den Dokumentarfilm von Christian Petry, der 1968 mit „Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern“auch die erste wissenschaftliche Arbeit über den Münchner Widerstandskreis geschrieben hatte, kritisierten die Opfer-Angehörigen heftig. Seine Ausstrahlung konnten sie nicht verhindern. Da hatte schon ein Interpretationswechsel stattgefunden. Den Studenten der 68er-Generation war der Widerstand der Weißen Rose kein Vorbild mehr. Mit dem moralischen Impetus konnte die politisierte Jugend nichts anfangen.
Dass Sophie Scholl zu dem Idol wurde, das sie heute ist, beginnt in den 1980er-Jahren. Als Initialzündung darf ein Jugendbuch gelten: Hermann Vinkes „Das kurze Leben der Sophie Scholl“, das 1980 im Ravensburger Verlag erschien. Es sprach eine neue Generation an. Den stärksten Schub bekam die Fokussierung auf Sophie Scholl aber durch das Medium Film. 1982 kamen Michael Verhoevens „Die weiße Rose“und Percy Adlons „Fünf letzte Tage“in die Kinos, beide mit Lena Stolze in der Hauptrolle. 2005 konzentrierte sich Regisseur Marc Rothemund in „Sophie Scholl – Die letzten Tage“auf die Verhöre vor ihrem Tod. Julia Jentsch spielte die Studentin. Jede Generation bekommt ihre Sophie Scholl. Nun auch auf Instagram. SWR und BR kündigen ein Projekt an: „Im Kanal @ichbinsophiescholl lässt die 21-jährige Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, ihre User*innen hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben.“
Sophie Scholl ist das Gesicht der Weißen Rose geworden. Das Erbe dieser Widerstandsgruppe hat nachhaltige Spuren hinterlassen. Mag man die Rolle Inge Aicher-Scholls auch ambivalent sehen, aber ohne ihr Engagement für die Erinnerung an die Weiße Rose wäre nicht nur Ulm um einiges ärmer. Dass die Amerikaner Robert Scholl zum ersten Oberbürgermeister der Stadt machten, war verbunden mit dem Schicksal seiner Kinder. Die Besatzungsmacht sah in ihm einen Vertreter der antifaschistischen Gegenelite und holte ihn gleich im Juni 1945 aus dem Schwarzwald zurück, wohin sich die Familie geflüchtet hatte. Die Gründung der vh Ulm im Jahre 1946 durch Inge AicherScholl wäre ohne den Bezug auf die Weiße Rose undenkbar gewesen. Denn diese Ulmer Volkshochschule war mehr als eine berufsbildende Einrichtung. Sie sollte im Sinne der Reeducation, des pädagogischen Programms der USRegierung für die Vermittlung demokratischer Werte, den Aufbruch und den geistigen Neuanfang markieren.
Und noch etwas ist ohne das Vermächtnis der Weißen Rose undenkbar: die Gründung der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm. Parallel zur „vh“entwickelten Otl Aicher und seine Frau Inge sowie Mitstreiter wie HansWerner Richter und Max Bill ein Konzept für eine Schule der Gestaltung. Am 3. August 1953 nahm sie den Lehrbetrieb auf. Durch eine Spende von einer Million Mark aus dem Fonds des amerikanischen Hochkommissars John McCloy wurde der Bau auf dem Ulmer Kuhberg finanziert und am 2. Oktober 1955 eröffnet. Träger der HfG war die Geschwister-Scholl-Stiftung.