Deutsche Verbrechen und deutsches Leid
Ein neues Dokumentationszentrum in Berlin erinnert an Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs – Das Projekt war jahrelang umstritten
BERLIN - Es sind die kleinen Objekte, die einen besonders anrühren. Der kaum handgroße Teddy etwa, den Eva Lange, wie es in der Beschilderung heißt, während eines sowjetischen Tieffliegerangriffs in Schlesien im Schützengraben gefunden hat. Ein anderes Kind hatte ihn dort verloren. Jetzt liegt das hellbraune Bärchen auf grünem Grund unter Glas in einer Vitrine des noch neuen Dokumentationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Handgeschriebene Hefte, die Taschenuhr eines Soldaten, der den Untergang eines Frachters mit Flüchtlingen überlebt hat, und das Besteckmesser eines Mädchens zur Selbstverteidigung – solch persönliche Gegenstände transportieren in den Ausstellungsräumen die Geschichte von 14 Millionen Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verlassen mussten. Bis es diesen Erinnerungsort gab, hat es Jahre gedauert. Denn politisch ist das Gedenken an die deutschen Kriegsopfer bis heute ein heißes Eisen.
Auch die Schriftstellerin Monika Taubitz, die in Meersburg am Bodensee ihre „zweite Heimat“hat, hat der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ein von ihr beschriebenes Schulheft überlassen. Eine Erinnerung an die schlimme Zeit, als sie mit ihrer Mutter und Tante in Nordenham in Niedersachsen ankam. Im Jahr 1946 war das. Im Februar war die Familie aus ihrem Haus in Breslau in Niederschlesien, dem heutigen Wroclaw, vertrieben und mit einem Viehwaggon nach Deutschland gebracht worden. Die 83-Jährige erinnert sich an Kälte, Hunger und eine Zimmerwirtin, die sie schikaniert habe. „Ich habe so gehungert, dass ich irgendwann nicht mehr aufstehen konnte, als ich neun Jahre alt war“, sagt Taubitz. Bis heute habe sie immer etwas Essbares in der Tasche. „Diese Erfahrung hat sich tief eingegraben.“Auch mit dem Schreiben hat sie nicht aufgehört – Heimat, Vertreibung und Neuanfang ist das Thema ihrer Erzählungen und Aufsätze. Wie sie auf das neue Dokumentationszentrum blickt? „Die Geschichte der Vertreibungen muss selbstverständlich dokumentiert werden“, sagt sie. „Menschen sind geschichtliche Wesen.“Aber das habe auch bereits stattgefunden – auf kultureller Ebene und in kleineren Häusern als jetzt in Berlin.
Das Dokumentationszentrum an der Stresemannstraße, gegenüber der Fassadenruine des Anhalter Bahnhofs, steht dabei keineswegs für Preußens Prunk und Protz, sondern vielmehr für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. In den 1920er-Jahren war das Haus Anziehungspunkt für Vergnügungslustige, im Zweiten Weltkrieg wurde es ziemlich beschädigt, während des Kalten Krieges war es dann als „Deutschlandhaus“an der Sektorengrenze ein Signal in Richtung Ost-Berlin. Nach einem vier Jahre dauernden Umbau nach Plänen von Architekten aus Feldkirch in Österreich ist es jetzt Sitz der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Diese Stiftung war jahrelang so umstritten, dass sie ihrem eigentlichen Auftrag, einen Erinnerungsort für die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung zu schaffen, kaum nachkommen konnte. Dass die Initiatorin des Projekts, die frühere CDU-Bundestagsabgeordnete
Erika Steinbach, zum rechtskonservativen Flügel der Partei gehörte und die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Deutschland und Polen 1991 im Bundestag abgelehnt hatte, lag wie eine zusätzliche Bürde auf der Stiftung. Steinbach ist inzwischen Vorsitzende der AfDnahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.
Auch die Lage des Dokumentationszentrums ist historisch aufgeladen. In der Nachbarschaft sind sowohl die „Topographie des Terrors“, ein Museum an dem Ort, wo während des „Dritten Reichs“die Geheime Staatspolizei, die SS und das Reichssicherheitshauptamt ihre Zentralen hatten, und das Holocaust-Mahnmal. Vom Anhalter Bahnhof direkt gegenüber, dessen kriegsbeschädigtes Gemäuer 1959 gesprengt wurde, deportierten die Nationalsozialisten fast zehntausend Juden in das KZ Theresienstadt. Dass die Stiftung gerade hier ihren Platz hat, könnte als Provokation empfunden werden. Doch die Stiftung „Topographie des Terrors“sieht ihre neuen Nachbarn entspannt. Man werde auch in Zukunft „in konstruktiver kritischer Auseinandersetzung verbunden sein“, teilt ein Sprecher mit. Wichtig sei, dass historische Ursachen und Wirkung im Zusammenhang stünden.
Nicht nur an das Leid der deutschen Vertriebenen zu erinnern, sondern auch die Ursachen zu benennen – das ist auch für die Direktorin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Gundula Bavendamm, ein zentrales Anliegen. Die Kulturmanagerin und Historikerin arbeitete fünf Jahre lang an der Umsetzung des Dokumentationszentrums. Seit seiner Eröffnung Ende Juni führt Bavendamm politische Prominenz wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Entwicklungsminister Gerd Müller durch den Neubau hinter der historischen Fassade, aber sie nimmt sich auch für weniger prominente Besucher Zeit und erklärt die Konzeption der Ausstellungen in ihrem Haus. Zwei Ansätze sind dabei ganz wichtig: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges sollte nicht zur nationalen Nabelschau werden, deshalb wird das Thema Flucht sowohl geschichtlich als auch geografisch weiter gefasst. Und – fast noch wichtiger: Vor der Vertreibungsgeschichte der Deutschen führt der Weg durch die historischen Ursachen,
die dazu geführt haben. „Jeder, der sich mit dem Thema Flucht und Vertreibung auseinandersetzt, muss sich vorher mit den Verbrechen des NS-Systems auseinandersetzen“, sagt die Direktorin. „Das ist eine kuratorische Aussage von uns.“
Deshalb ist die Ausstellung im zweiten Stock des Gebäudes, in dem es explizit um die Deutschen geht, anders als im ersten Stock chronologisch geordnet. Wer sich die Utensilien aus einer sogenannten sudetendeutschen Heimatstube anschauen will, muss an den Schaukästen zu den Massakern und Erschießungen durch deutsche Soldaten in Osteuropa vorbei.
Der baden-württembergische
Landtagsabgeordnete Raimund Haser beschäftigt sich seit Jahren mit dem schwierigen Gedenken an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, weil sie in den neu geordneten Staaten nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus nicht mehr geduldet waren. „Unser Geschichtsbewusstsein endet am 8. Mai 1945 und fängt erst wieder mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 an“, sagt der CDU-Politiker, der seit 2019 Vorsitzender des Hauses der Donauschwaben e.V. in Sindelfingen und stellvertretender Landesvorsitzender des Bundes der Vertriebenen (BdV) in Baden-Württemberg ist. Die Menschen, die in dieser Zwischenzeit den Verlust ihrer Heimat, Not,
Tod und Elend erfahren haben, hätten trotz der Verbrechen der Nationalsozialisten „ein Recht darauf, dass ihre Geschichte richtig erzählt wird“, ist Haser überzeugt. „Auch sie mussten den Preis für die Brutalität des Krieges bezahlen.“
Dass ihn dieses Thema so umtreibt, rührt auch aus seiner eigenen Familiengeschichte. Sein Vater wurde 1943 in Syrmien, einer von Donauschwaben bewohnten Gegend in der Nähe von Belgrad, der heutigen Hauptstadt Serbiens, geboren. 1945 floh seine Großmutter vor Tito-Partisanen und den Soldaten der Roten Armee mit ihrem damals zweijährigen Sohn nach Wien. Einige Jahre und Stationen später kam die Familie in Oberschwaben an. Raimund Hasers Urgroßmutter, die in dem Dorf geblieben war, in dem die Donauschwaben seit Jahrhunderten ansässig waren, wurde erschossen. „Man darf das Leid von Millionen Menschen, die allesamt Opfer dieses Wahnsinns während des Weltkrieges waren, nicht unter den Tisch fallen lassen“, sagt Haser. Er wolle damit nichts relativieren, „aber auch für deutsche Opfer des Krieges sollte ein Platz in der Erinnerungskultur sein“.
Große Politik und individuelles Leid. Davon erzählen im Dokumentationszentrum in Berlin Ausstellungsstücke, die oft sehr alltäglich, fast schon banal wirken. Wie das Stück Stoff in einem grauen Rahmen, auf dem mit etwas Mühe zu lesen ist: „Wie dein Herz so gut und rein soll auch deine Küche sein.“Für die Familie Ferger, die wie Raimund Hasers Vorfahren väterlicherseits Donauschwaben waren, wurde die unvollendete Stickarbeit zu einem Zeichen der Erinnerung für den Heimatverlust.
Aus Angst vor der Rache der deutschen Kriegsgegner war die Familie im Sommer 1944 aus Erdevik in Syrmien geflohen. Auch der hölzerne Wagen, auf dem sie sich in Richtung Deutschland aufgemacht haben, blieb erhalten – und ist jetzt Teil der Ausstellung in Berlin. Die Fergers haben ihre Flucht aus der Region, die heute im nördlichen Serbien liegt, gut überstanden. Aber Hunderttausende Deutsche, die entweder fliehen mussten oder vertrieben wurden, kamen nie in Deutschland an.
„Die Wissenschaft geht heutzutage von mehr als 600 000 deutschen Todesopfern aufgrund von Flucht und Vertreibung aus“, sagt Stiftungsdirektorin Bavendamm. Von den 14 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, haben sich nachweislich 12,5 Millionen in Deutschland angesiedelt. „Aber es wäre unseriös die Differenz zwischen diesen Zahlen mit Todesopfern gleichzusetzen“, so Bavendamm. Das Schicksal vieler Menschen sei ungeklärt geblieben.
Wie nahe Leben und Tod auf der Flucht beieinander waren, zeigt ein Ausstellungsstück im ersten Stock des Gebäudes: In einer Vitrine hängt der Wintermantel einer Frau, vorne auf dem Glas ist der Umriss eines Jungen nachgezeichnet. Der Bub, der siebenjährige Eitel Koschorreck, überlebte die Flucht aus Ostpreußen, seine Mutter, die ihn in den Mantel gehüllt hatte, starb im März 1945. Ein Enkel Koschorrecks gehörte zu den ersten Besuchern des Dokumentationszentrums.
Gundula Bavendamm bezeichnet diesen Ort, der seit vielen Jahren einen großen Raum in ihrem Leben einnimmt, als eine „Schule der Ambivalenz“. „Dieses Haus soll und darf ein Ort sein, an dem die Verluste, die schweren Erfahrungen und das Leid der Deutschen einen Platz haben und somit öffentlich anerkannt werden. Gleichzeitig wird hier gesagt, dass es ohne die Nationalsozialisten und den von ihnen verursachten furchtbaren Krieg niemals dazu gekommen wäre.“
Für die Schriftstellerin Monika Taubitz bestehen Orte der Erinnerung nicht unbedingt aus Beton und Schautafeln. Für sie ist es wichtig, sich auf literarischer, kultureller und menschlicher Ebene auszutauschen – vor allem auch in und mit Polen. Über ihr Engagement im Wangener Kreis, einer Gesellschaft von Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, kam sie bereits zu Zeiten des Kalten Krieges in Kontakt mit polnischen Wissenschaftlern und Literaten. „Im Laufe der Jahre wurde der Austausch immer enger, es gab viele schöne, bewegende Erlebnisse bei meinen Reisen“, sagt die 83-Jährige, deren erster Reiseweg, sobald es die Corona-Beschränkungen zuließen, wieder nach Polen führte.
Was die ehemalige Lehrerin besonders freut: Ihre Bücher, gerade auch ihre Gedichtbände, kämen in Polen gut an. „Die werden dort von Schulklassen übersetzt“, erzählt sie. Bei einer ihrer Reisen hat sie auch ihr Elternhaus in Breslau besucht. Die Familie, die darin wohnte, habe sie „nett begrüßt und eingeladen“und sich sorgsam um das Haus gekümmert. „Das hat den Schmerz über den Verlust meiner ersten Heimat Schlesien gelindert“, sagt Taubitz. Wirkliche Aussöhnung funktioniere nur, wenn die Menschen sich kennenlernten, ist sie nach all den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte überzeugt. „Ich habe in Polen Freunde gefunden, mit denen kann ich frei über alles reden. Und dann reichen wir uns die Hände.“