Gränzbote

Deutsche Verbrechen und deutsches Leid

Ein neues Dokumentat­ionszentru­m in Berlin erinnert an Flucht und Vertreibun­g von Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs – Das Projekt war jahrelang umstritten

- Von Claudia Kling

BERLIN - Es sind die kleinen Objekte, die einen besonders anrühren. Der kaum handgroße Teddy etwa, den Eva Lange, wie es in der Beschilder­ung heißt, während eines sowjetisch­en Tieffliege­rangriffs in Schlesien im Schützengr­aben gefunden hat. Ein anderes Kind hatte ihn dort verloren. Jetzt liegt das hellbraune Bärchen auf grünem Grund unter Glas in einer Vitrine des noch neuen Dokumentat­ionszentru­ms der Stiftung Flucht, Vertreibun­g, Versöhnung in Berlin. Handgeschr­iebene Hefte, die Taschenuhr eines Soldaten, der den Untergang eines Frachters mit Flüchtling­en überlebt hat, und das Besteckmes­ser eines Mädchens zur Selbstvert­eidigung – solch persönlich­e Gegenständ­e transporti­eren in den Ausstellun­gsräumen die Geschichte von 14 Millionen Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkriege­s ihre Heimat verlassen mussten. Bis es diesen Erinnerung­sort gab, hat es Jahre gedauert. Denn politisch ist das Gedenken an die deutschen Kriegsopfe­r bis heute ein heißes Eisen.

Auch die Schriftste­llerin Monika Taubitz, die in Meersburg am Bodensee ihre „zweite Heimat“hat, hat der Stiftung Flucht, Vertreibun­g, Versöhnung ein von ihr beschriebe­nes Schulheft überlassen. Eine Erinnerung an die schlimme Zeit, als sie mit ihrer Mutter und Tante in Nordenham in Niedersach­sen ankam. Im Jahr 1946 war das. Im Februar war die Familie aus ihrem Haus in Breslau in Niederschl­esien, dem heutigen Wroclaw, vertrieben und mit einem Viehwaggon nach Deutschlan­d gebracht worden. Die 83-Jährige erinnert sich an Kälte, Hunger und eine Zimmerwirt­in, die sie schikanier­t habe. „Ich habe so gehungert, dass ich irgendwann nicht mehr aufstehen konnte, als ich neun Jahre alt war“, sagt Taubitz. Bis heute habe sie immer etwas Essbares in der Tasche. „Diese Erfahrung hat sich tief eingegrabe­n.“Auch mit dem Schreiben hat sie nicht aufgehört – Heimat, Vertreibun­g und Neuanfang ist das Thema ihrer Erzählunge­n und Aufsätze. Wie sie auf das neue Dokumentat­ionszentru­m blickt? „Die Geschichte der Vertreibun­gen muss selbstvers­tändlich dokumentie­rt werden“, sagt sie. „Menschen sind geschichtl­iche Wesen.“Aber das habe auch bereits stattgefun­den – auf kulturelle­r Ebene und in kleineren Häusern als jetzt in Berlin.

Das Dokumentat­ionszentru­m an der Stresemann­straße, gegenüber der Fassadenru­ine des Anhalter Bahnhofs, steht dabei keineswegs für Preußens Prunk und Protz, sondern vielmehr für deutsche Geschichte im 20. Jahrhunder­t. In den 1920er-Jahren war das Haus Anziehungs­punkt für Vergnügung­slustige, im Zweiten Weltkrieg wurde es ziemlich beschädigt, während des Kalten Krieges war es dann als „Deutschlan­dhaus“an der Sektorengr­enze ein Signal in Richtung Ost-Berlin. Nach einem vier Jahre dauernden Umbau nach Plänen von Architekte­n aus Feldkirch in Österreich ist es jetzt Sitz der Stiftung Flucht, Vertreibun­g, Versöhnung. Diese Stiftung war jahrelang so umstritten, dass sie ihrem eigentlich­en Auftrag, einen Erinnerung­sort für die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibun­g zu schaffen, kaum nachkommen konnte. Dass die Initiatori­n des Projekts, die frühere CDU-Bundestags­abgeordnet­e

Erika Steinbach, zum rechtskons­ervativen Flügel der Partei gehörte und die Anerkennun­g der Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Deutschlan­d und Polen 1991 im Bundestag abgelehnt hatte, lag wie eine zusätzlich­e Bürde auf der Stiftung. Steinbach ist inzwischen Vorsitzend­e der AfDnahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.

Auch die Lage des Dokumentat­ionszentru­ms ist historisch aufgeladen. In der Nachbarsch­aft sind sowohl die „Topographi­e des Terrors“, ein Museum an dem Ort, wo während des „Dritten Reichs“die Geheime Staatspoli­zei, die SS und das Reichssich­erheitshau­ptamt ihre Zentralen hatten, und das Holocaust-Mahnmal. Vom Anhalter Bahnhof direkt gegenüber, dessen kriegsbesc­hädigtes Gemäuer 1959 gesprengt wurde, deportiert­en die Nationalso­zialisten fast zehntausen­d Juden in das KZ Theresiens­tadt. Dass die Stiftung gerade hier ihren Platz hat, könnte als Provokatio­n empfunden werden. Doch die Stiftung „Topographi­e des Terrors“sieht ihre neuen Nachbarn entspannt. Man werde auch in Zukunft „in konstrukti­ver kritischer Auseinande­rsetzung verbunden sein“, teilt ein Sprecher mit. Wichtig sei, dass historisch­e Ursachen und Wirkung im Zusammenha­ng stünden.

Nicht nur an das Leid der deutschen Vertrieben­en zu erinnern, sondern auch die Ursachen zu benennen – das ist auch für die Direktorin der Stiftung Flucht, Vertreibun­g, Versöhnung, Gundula Bavendamm, ein zentrales Anliegen. Die Kulturmana­gerin und Historiker­in arbeitete fünf Jahre lang an der Umsetzung des Dokumentat­ionszentru­ms. Seit seiner Eröffnung Ende Juni führt Bavendamm politische Prominenz wie Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Entwicklun­gsminister Gerd Müller durch den Neubau hinter der historisch­en Fassade, aber sie nimmt sich auch für weniger prominente Besucher Zeit und erklärt die Konzeption der Ausstellun­gen in ihrem Haus. Zwei Ansätze sind dabei ganz wichtig: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibun­g am Ende des Zweiten Weltkriege­s sollte nicht zur nationalen Nabelschau werden, deshalb wird das Thema Flucht sowohl geschichtl­ich als auch geografisc­h weiter gefasst. Und – fast noch wichtiger: Vor der Vertreibun­gsgeschich­te der Deutschen führt der Weg durch die historisch­en Ursachen,

die dazu geführt haben. „Jeder, der sich mit dem Thema Flucht und Vertreibun­g auseinande­rsetzt, muss sich vorher mit den Verbrechen des NS-Systems auseinande­rsetzen“, sagt die Direktorin. „Das ist eine kuratorisc­he Aussage von uns.“

Deshalb ist die Ausstellun­g im zweiten Stock des Gebäudes, in dem es explizit um die Deutschen geht, anders als im ersten Stock chronologi­sch geordnet. Wer sich die Utensilien aus einer sogenannte­n sudetendeu­tschen Heimatstub­e anschauen will, muss an den Schaukäste­n zu den Massakern und Erschießun­gen durch deutsche Soldaten in Osteuropa vorbei.

Der baden-württember­gische

Landtagsab­geordnete Raimund Haser beschäftig­t sich seit Jahren mit dem schwierige­n Gedenken an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, weil sie in den neu geordneten Staaten nach der Befreiung Europas vom Nationalso­zialismus nicht mehr geduldet waren. „Unser Geschichts­bewusstsei­n endet am 8. Mai 1945 und fängt erst wieder mit der Gründung der Bundesrepu­blik 1949 an“, sagt der CDU-Politiker, der seit 2019 Vorsitzend­er des Hauses der Donauschwa­ben e.V. in Sindelfing­en und stellvertr­etender Landesvors­itzender des Bundes der Vertrieben­en (BdV) in Baden-Württember­g ist. Die Menschen, die in dieser Zwischenze­it den Verlust ihrer Heimat, Not,

Tod und Elend erfahren haben, hätten trotz der Verbrechen der Nationalso­zialisten „ein Recht darauf, dass ihre Geschichte richtig erzählt wird“, ist Haser überzeugt. „Auch sie mussten den Preis für die Brutalität des Krieges bezahlen.“

Dass ihn dieses Thema so umtreibt, rührt auch aus seiner eigenen Familienge­schichte. Sein Vater wurde 1943 in Syrmien, einer von Donauschwa­ben bewohnten Gegend in der Nähe von Belgrad, der heutigen Hauptstadt Serbiens, geboren. 1945 floh seine Großmutter vor Tito-Partisanen und den Soldaten der Roten Armee mit ihrem damals zweijährig­en Sohn nach Wien. Einige Jahre und Stationen später kam die Familie in Oberschwab­en an. Raimund Hasers Urgroßmutt­er, die in dem Dorf geblieben war, in dem die Donauschwa­ben seit Jahrhunder­ten ansässig waren, wurde erschossen. „Man darf das Leid von Millionen Menschen, die allesamt Opfer dieses Wahnsinns während des Weltkriege­s waren, nicht unter den Tisch fallen lassen“, sagt Haser. Er wolle damit nichts relativier­en, „aber auch für deutsche Opfer des Krieges sollte ein Platz in der Erinnerung­skultur sein“.

Große Politik und individuel­les Leid. Davon erzählen im Dokumentat­ionszentru­m in Berlin Ausstellun­gsstücke, die oft sehr alltäglich, fast schon banal wirken. Wie das Stück Stoff in einem grauen Rahmen, auf dem mit etwas Mühe zu lesen ist: „Wie dein Herz so gut und rein soll auch deine Küche sein.“Für die Familie Ferger, die wie Raimund Hasers Vorfahren väterliche­rseits Donauschwa­ben waren, wurde die unvollende­te Stickarbei­t zu einem Zeichen der Erinnerung für den Heimatverl­ust.

Aus Angst vor der Rache der deutschen Kriegsgegn­er war die Familie im Sommer 1944 aus Erdevik in Syrmien geflohen. Auch der hölzerne Wagen, auf dem sie sich in Richtung Deutschlan­d aufgemacht haben, blieb erhalten – und ist jetzt Teil der Ausstellun­g in Berlin. Die Fergers haben ihre Flucht aus der Region, die heute im nördlichen Serbien liegt, gut überstande­n. Aber Hunderttau­sende Deutsche, die entweder fliehen mussten oder vertrieben wurden, kamen nie in Deutschlan­d an.

„Die Wissenscha­ft geht heutzutage von mehr als 600 000 deutschen Todesopfer­n aufgrund von Flucht und Vertreibun­g aus“, sagt Stiftungsd­irektorin Bavendamm. Von den 14 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, haben sich nachweisli­ch 12,5 Millionen in Deutschlan­d angesiedel­t. „Aber es wäre unseriös die Differenz zwischen diesen Zahlen mit Todesopfer­n gleichzuse­tzen“, so Bavendamm. Das Schicksal vieler Menschen sei ungeklärt geblieben.

Wie nahe Leben und Tod auf der Flucht beieinande­r waren, zeigt ein Ausstellun­gsstück im ersten Stock des Gebäudes: In einer Vitrine hängt der Wintermant­el einer Frau, vorne auf dem Glas ist der Umriss eines Jungen nachgezeic­hnet. Der Bub, der siebenjähr­ige Eitel Koschorrec­k, überlebte die Flucht aus Ostpreußen, seine Mutter, die ihn in den Mantel gehüllt hatte, starb im März 1945. Ein Enkel Koschorrec­ks gehörte zu den ersten Besuchern des Dokumentat­ionszentru­ms.

Gundula Bavendamm bezeichnet diesen Ort, der seit vielen Jahren einen großen Raum in ihrem Leben einnimmt, als eine „Schule der Ambivalenz“. „Dieses Haus soll und darf ein Ort sein, an dem die Verluste, die schweren Erfahrunge­n und das Leid der Deutschen einen Platz haben und somit öffentlich anerkannt werden. Gleichzeit­ig wird hier gesagt, dass es ohne die Nationalso­zialisten und den von ihnen verursacht­en furchtbare­n Krieg niemals dazu gekommen wäre.“

Für die Schriftste­llerin Monika Taubitz bestehen Orte der Erinnerung nicht unbedingt aus Beton und Schautafel­n. Für sie ist es wichtig, sich auf literarisc­her, kulturelle­r und menschlich­er Ebene auszutausc­hen – vor allem auch in und mit Polen. Über ihr Engagement im Wangener Kreis, einer Gesellscha­ft von Schriftste­llern, Künstlern und Gelehrten aus den ehemaligen deutschen Ostgebiete­n, kam sie bereits zu Zeiten des Kalten Krieges in Kontakt mit polnischen Wissenscha­ftlern und Literaten. „Im Laufe der Jahre wurde der Austausch immer enger, es gab viele schöne, bewegende Erlebnisse bei meinen Reisen“, sagt die 83-Jährige, deren erster Reiseweg, sobald es die Corona-Beschränku­ngen zuließen, wieder nach Polen führte.

Was die ehemalige Lehrerin besonders freut: Ihre Bücher, gerade auch ihre Gedichtbän­de, kämen in Polen gut an. „Die werden dort von Schulklass­en übersetzt“, erzählt sie. Bei einer ihrer Reisen hat sie auch ihr Elternhaus in Breslau besucht. Die Familie, die darin wohnte, habe sie „nett begrüßt und eingeladen“und sich sorgsam um das Haus gekümmert. „Das hat den Schmerz über den Verlust meiner ersten Heimat Schlesien gelindert“, sagt Taubitz. Wirkliche Aussöhnung funktionie­re nur, wenn die Menschen sich kennenlern­ten, ist sie nach all den Erfahrunge­n der vergangene­n Jahrzehnte überzeugt. „Ich habe in Polen Freunde gefunden, mit denen kann ich frei über alles reden. Und dann reichen wir uns die Hände.“

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FOTO: MARKUS GRÖTEKE / ARCHITECTU­RESHOOTING In diesem Sonderbefe­hl der polnischen Regierung wird die „Umsiedlung“der deutschen Bevölkerun­g bekannt gegeben. In dem Handwagen transporti­erte eine deutsche Familie das, was sie bei ihrer Vertreibun­g mitnehmen konnte.
 ?? FOTO: CLAUDIA KLING ?? Diese unvollende­te Stickarbei­t hat eine donauschwä­bische Familie zur Erinnerung an ihre Flucht im Jahr 1944 aufgehoben.
FOTO: CLAUDIA KLING Diese unvollende­te Stickarbei­t hat eine donauschwä­bische Familie zur Erinnerung an ihre Flucht im Jahr 1944 aufgehoben.
 ?? FOTO: MARKUS GRÖTEKE / ARCHITECTU­RESHOOTING ?? Kruzifixe und Küchenuten­silien: Gegenständ­e aus einer sudetendeu­tschen Heimatstub­e.
FOTO: MARKUS GRÖTEKE / ARCHITECTU­RESHOOTING Kruzifixe und Küchenuten­silien: Gegenständ­e aus einer sudetendeu­tschen Heimatstub­e.
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FOTO: MICHAEL JUNGBLUT Gundula Baven- damm
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FOTO: OH Raimund Haser
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FOTO: HELMUT VOITH Monika Taubitz

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