Gränzbote

Über den Arbeitsmar­kt zum Bleiberech­t

SPD, Grüne und FDP wollen „Spurwechse­l“bei der Integratio­n von Asylbewerb­ern

- Von Claudia Kling

BERLIN - „Spurwechse­l“– bei diesem Begriff denken die wenigsten als erstes an Flüchtling­e und den Arbeitsmar­kt. Doch um nichts anderes geht es, wenn in der Politik davon die Rede ist. Seit Jahren ringen Bund und Länder, Parteien, auch intern, um die Frage, ob abgelehnte Asylbewerb­er ein Bleiberech­t bekommen sollen, wenn sie eine Arbeit haben und entspreche­nd integriert sind. Mit der neuen Regierung soll der Spurwechse­l wohl kommen: „Diejenigen, die gut in Deutschlan­d integriert sind und für ihren eigenen Lebensunte­rhalt sorgen, sollen schneller einen rechtssich­eren Aufenthalt­sstatus erhalten können“, heißt es dazu in dem zwölfseiti­gen Sondierung­spapier, mit dem SPD, Grüne und FDP in die Koalitions­gespräche gegangen sind. In der Union dürften sich bei einigen Politikern beim Gedanken daran die Haare aufstellen.

Erst vor Kurzem hatte der geschäftsf­ührende Bundesinne­nminister Horst Seehofer seine Position noch einmal klar gemacht. „Ich war immer ein Gegner des Spurwechse­ls, weil er einen Pull-Effekt weckt – trotz der guten Absichten dahinter“, sagte er in Berlin. Der CSU-Politiker befürchtet wie viele andere in der Union, dass die Möglichkei­t, über Arbeit ein Bleiberech­t zu bekommen, weitere Migranten dazu motiviert, nach Deutschlan­d zu kommen.

Viele Unternehme­r, gerade auch in Baden-Württember­g, halten diese Sichtweise seit Langem für weltfremd. Mit der Initiative „Bleiberech­t durch Arbeit“setzten sie sich jahrelang dafür ein, dass Flüchtling­e, die ihren Lebensunte­rhalt selbst erwirtscha­ften, nicht abgeschobe­n werden. Die Firmen wehrten sich dagegen, dass sie auf Geflüchtet­e, die sie mit viel Mühe in ihre Betriebe integriert hatten, wieder verzichten sollten. Doch das Ziel „Spurwechse­l“konnten sie nicht durchsetze­n, auf Bundeseben­e wurde stattdesse­n eine „Beschäftig­ungsduldun­g“, die an etliche Bedingunge­n geknüpft war, eingeführt. Auch das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz, das nach langem Hin und Her seit März 2020 in Kraft ist, brachte für die Geduldeten, die eine Arbeit haben, keine Verbesseru­ngen.

Dass der „Spurwechse­l“mit einer Ampelkoali­tion kommen könnte, ist nicht überrasche­nd. Politiker von SPD, Grünen und FDP hatten sich seit Langem dafür ausgesproc­hen, den Wechsel vom Asylrecht ins Einwanderu­ngsrecht

zu ermögliche­n. Der nordrhein-westfälisc­he Integratio­nsminister Joachim Stamp (FDP) kritisiert­e erst vor Kurzem eine „erbärmlich­e“Bilanz von CDU und CSU in der Migrations­politik. Bis heute habe die Union nicht verstanden, „dass Deutschlan­d oft die Falschen abschiebt, nämlich Arbeitskrä­fte und integriert­e Familien, während uns Straftäter und Gefährder auf der Nase herumtanze­n“, wird Stamp, der in Nordrhein-Westfalen in einer Koalition mit der CDU regiert, in der „Bild“-Zeitung zitiert.

Arbeitsmar­ktexperten monieren ohnehin, dass die Große Koalition viel zu wenig unternomme­n habe, um Fachkräfte nach Deutschlan­d zu holen. Der Chef der Bundesagen­tur für Arbeit, Detlev Scheele, sprach vor der Bundestags­wahl von 400 000 Zuwanderer­n, die hierzuland­e notwendig seien, um das sogenannte Erwerbsper­sonenpoten­zial auf dem Niveau von heute zu halten.

„Der Fachkräfte­mangel bleibt ein Topthema für die deutsche Wirtschaft und für unsere Wettbewerb­sfähigkeit in den kommenden Jahren“, heißt es dazu von der Bundesvere­inigung

der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA). Deutschlan­d müsse attraktive­r für ausländisc­he Fachkräfte werden. Der BDA fordert deshalb die neue Bundesregi­erung auf, Verfahren zur gezielten Fachkräfte­zuwanderun­g zu vereinfach­en, zu beschleuni­gen und bürokratis­che Hürden abzuschaff­en. „Monatelang­e Wartezeite­n auf Termine und langwierig­e Verfahren müssen ein Ende haben, damit der Prozess rund um die Rekrutieru­ng und die Einreise für Arbeitgebe­r und Zuwandernd­e planbar wird“, so BDA-Hauptgesch­äftsführer Steffen Kampeter.

Die potenziell­en rot-grün-gelben Koalitionä­re haben es sich offensicht­lich zum Ziel gesetzt, dieses Problem anzugehen: Im Sondierung­spapier heißt es, das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz soll „praktikabl­er“werden als bisher und Zuwanderun­g auch mittels Punktesyst­em steuern. Fakt ist, dass bereits jetzt 50 Prozent der 1,2 Millionen Geflüchtet­en, die zwischen 2013 und 2018 nach Deutschlan­d kamen, erwerbstät­ig sind. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet als Fachkraft oder in „Tätigkeite­n mit höherem Anforderun­gsniveau“,

heißt es in einem Bericht des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung vom April 2020. Weitere zehn Prozent der Flüchtling­e besuchten Bildungsei­nrichtunge­n, Integratio­nskurse und andere Kurse, um sie für den Arbeitsmar­kt zu qualifizie­ren.

Dass immer mehr Migranten berufstäti­g sind, bestätigt auch eine Antwort der Bundesregi­erung vom Februar 2021 auf eine AfD-Anfrage zu den „Auswirkung­en von Migration auf den Sozialstaa­t“. Die sozialvers­icherungsp­flichtige Beschäftig­ung von Ausländern sei innerhalb der vergangene­n fünf Jahre um 50 Prozent auf inzwischen rund 4,24 Millionen gestiegen, heißt es darin. Auch als Unternehme­r seien Zuwanderer sehr aktiv. Im Jahr 2019 sei jede vierte Existenzgr­ündung durch Migranten erfolgt – 160 000 von 605 000 Gründungen. Die Bundesregi­erung kommt zu dem Befund: Migranten „tragen zur Stabilisie­rung unseres Sozialvers­icherungss­ystems bei, entrichten Steuern und haben einen großen Anteil am wirtschaft­lichen Aufschwung Deutschlan­ds in den letzten Jahren“.

 ?? FOTO: CHRISTOPH SCHMIDT ?? Gut integriert­e Asylbewerb­er, die eine Arbeitsste­lle haben, sollen nach dem Willen der möglichen Ampelkoali­tion schneller einen rechtssich­eren Aufenthalt­sstatus bekommen.
FOTO: CHRISTOPH SCHMIDT Gut integriert­e Asylbewerb­er, die eine Arbeitsste­lle haben, sollen nach dem Willen der möglichen Ampelkoali­tion schneller einen rechtssich­eren Aufenthalt­sstatus bekommen.

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