Über den Arbeitsmarkt zum Bleiberecht
SPD, Grüne und FDP wollen „Spurwechsel“bei der Integration von Asylbewerbern
BERLIN - „Spurwechsel“– bei diesem Begriff denken die wenigsten als erstes an Flüchtlinge und den Arbeitsmarkt. Doch um nichts anderes geht es, wenn in der Politik davon die Rede ist. Seit Jahren ringen Bund und Länder, Parteien, auch intern, um die Frage, ob abgelehnte Asylbewerber ein Bleiberecht bekommen sollen, wenn sie eine Arbeit haben und entsprechend integriert sind. Mit der neuen Regierung soll der Spurwechsel wohl kommen: „Diejenigen, die gut in Deutschland integriert sind und für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen, sollen schneller einen rechtssicheren Aufenthaltsstatus erhalten können“, heißt es dazu in dem zwölfseitigen Sondierungspapier, mit dem SPD, Grüne und FDP in die Koalitionsgespräche gegangen sind. In der Union dürften sich bei einigen Politikern beim Gedanken daran die Haare aufstellen.
Erst vor Kurzem hatte der geschäftsführende Bundesinnenminister Horst Seehofer seine Position noch einmal klar gemacht. „Ich war immer ein Gegner des Spurwechsels, weil er einen Pull-Effekt weckt – trotz der guten Absichten dahinter“, sagte er in Berlin. Der CSU-Politiker befürchtet wie viele andere in der Union, dass die Möglichkeit, über Arbeit ein Bleiberecht zu bekommen, weitere Migranten dazu motiviert, nach Deutschland zu kommen.
Viele Unternehmer, gerade auch in Baden-Württemberg, halten diese Sichtweise seit Langem für weltfremd. Mit der Initiative „Bleiberecht durch Arbeit“setzten sie sich jahrelang dafür ein, dass Flüchtlinge, die ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften, nicht abgeschoben werden. Die Firmen wehrten sich dagegen, dass sie auf Geflüchtete, die sie mit viel Mühe in ihre Betriebe integriert hatten, wieder verzichten sollten. Doch das Ziel „Spurwechsel“konnten sie nicht durchsetzen, auf Bundesebene wurde stattdessen eine „Beschäftigungsduldung“, die an etliche Bedingungen geknüpft war, eingeführt. Auch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das nach langem Hin und Her seit März 2020 in Kraft ist, brachte für die Geduldeten, die eine Arbeit haben, keine Verbesserungen.
Dass der „Spurwechsel“mit einer Ampelkoalition kommen könnte, ist nicht überraschend. Politiker von SPD, Grünen und FDP hatten sich seit Langem dafür ausgesprochen, den Wechsel vom Asylrecht ins Einwanderungsrecht
zu ermöglichen. Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) kritisierte erst vor Kurzem eine „erbärmliche“Bilanz von CDU und CSU in der Migrationspolitik. Bis heute habe die Union nicht verstanden, „dass Deutschland oft die Falschen abschiebt, nämlich Arbeitskräfte und integrierte Familien, während uns Straftäter und Gefährder auf der Nase herumtanzen“, wird Stamp, der in Nordrhein-Westfalen in einer Koalition mit der CDU regiert, in der „Bild“-Zeitung zitiert.
Arbeitsmarktexperten monieren ohnehin, dass die Große Koalition viel zu wenig unternommen habe, um Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlev Scheele, sprach vor der Bundestagswahl von 400 000 Zuwanderern, die hierzulande notwendig seien, um das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial auf dem Niveau von heute zu halten.
„Der Fachkräftemangel bleibt ein Topthema für die deutsche Wirtschaft und für unsere Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden Jahren“, heißt es dazu von der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Deutschland müsse attraktiver für ausländische Fachkräfte werden. Der BDA fordert deshalb die neue Bundesregierung auf, Verfahren zur gezielten Fachkräftezuwanderung zu vereinfachen, zu beschleunigen und bürokratische Hürden abzuschaffen. „Monatelange Wartezeiten auf Termine und langwierige Verfahren müssen ein Ende haben, damit der Prozess rund um die Rekrutierung und die Einreise für Arbeitgeber und Zuwandernde planbar wird“, so BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter.
Die potenziellen rot-grün-gelben Koalitionäre haben es sich offensichtlich zum Ziel gesetzt, dieses Problem anzugehen: Im Sondierungspapier heißt es, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll „praktikabler“werden als bisher und Zuwanderung auch mittels Punktesystem steuern. Fakt ist, dass bereits jetzt 50 Prozent der 1,2 Millionen Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2018 nach Deutschland kamen, erwerbstätig sind. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet als Fachkraft oder in „Tätigkeiten mit höherem Anforderungsniveau“,
heißt es in einem Bericht des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung vom April 2020. Weitere zehn Prozent der Flüchtlinge besuchten Bildungseinrichtungen, Integrationskurse und andere Kurse, um sie für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren.
Dass immer mehr Migranten berufstätig sind, bestätigt auch eine Antwort der Bundesregierung vom Februar 2021 auf eine AfD-Anfrage zu den „Auswirkungen von Migration auf den Sozialstaat“. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von Ausländern sei innerhalb der vergangenen fünf Jahre um 50 Prozent auf inzwischen rund 4,24 Millionen gestiegen, heißt es darin. Auch als Unternehmer seien Zuwanderer sehr aktiv. Im Jahr 2019 sei jede vierte Existenzgründung durch Migranten erfolgt – 160 000 von 605 000 Gründungen. Die Bundesregierung kommt zu dem Befund: Migranten „tragen zur Stabilisierung unseres Sozialversicherungssystems bei, entrichten Steuern und haben einen großen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands in den letzten Jahren“.