Verdrängt, aber nicht vergessen
Marie NDiaye erzählt in „Die Rache ist mein“von Unterdrückung und Missbrauch
Was den Menschen in ihrem Leben im Allgemeinen die größten Probleme bereitet“, so sagte Marie NDiaye einmal, seien die „nächsten Angehörigen, ihre Kinder, Eltern, Ehemänner oder -frauen.“Immer wieder hat die 1967 als Tochter eines senegalesischen Vaters und einer französischen Mutter in den Banlieues von Paris aufgewachsene Schriftstellerin, die 2009 als erste Schwarze den Prix-Goncourt erhielt, über komplizierte Familienverhältnisse geschrieben. Ihr neuer Roman „Die Rache ist mein“reiht sich da nahtlos ein.
Maître Susane ist Anwältin. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen und hat den sozialen Aufstieg geschafft. Ihre Kanzlei aber läuft mäßig. Sie vertritt Mandanten, die ihren Namen ändern wollen (weil sie heißen wie ein Sklavenhändler), oder ihre Putzfrau Sharon aus Mauritius, für die sie eine Aufenthaltsgenehmigung erstreiten will. Sie hat sich eingerichtet in ihrem Leben. Bis ein Mann ihre Dienste in Anspruch nimmt, dessen Name Gilles Principaux
Erinnerungen in ihr heraufbeschwört.
Sie war zehn als ihre Mutter sie zum Bügeln ins Haus der großbürgerlichen Familie Principaux mitnahm. Während die Mutter arbeitete, ging sie mit dem damals 14-jährigen Gilles in sein Zimmer. Was dort geschah, lässt Marie NDiaye offen. Me Susane erinnert sich nicht. „Aber was hat er getan?“, fragt der Vater, worauf sie antwortet: „Nichts, Papa! Verstehst du denn nicht? Absolut nichts von dem, was du damit meinst!“Die Mutter will sich nicht mal mehr an den Namen der ehrwürdigen Familie erinnern, bei der sie bügelte. Nur, dass sie das doppelte Gehalt zahlte, weiß sie noch. Und jetzt steht eben dieser Gilles Principaux vor Me Susane und will, dass sie seine im Gefängnis sitzende Ehefrau Marlyne vertritt, die ihre drei Kinder ertränkt hat.
In klingenden Sätzen, die die französische Erzähltradition bürgerlicher Romane fortsetzt, folgt Marie NDiyae den schwebenden Erinnerungen der Hauptfigur. Bis zuletzt bleibt im Unklaren, was wirklich geschah im Kinderzimmer hinter verschlossenen Türen. Obwohl es nur eine Erklärung geben kann.
Kunstvoll variiert NDiaye das Motiv des Missbrauchs. Hat Gilles Principaux ein zweites Mal Schuld auf sich geladen? Hat er auch seine Ehefrau ausgenutzt, sodass die keine andere Lösung wusste, als ihre Kinder zu töten? Marie NDiaye erzählt von Unterdrückung und Missbrauch und von der bürgerlichen Fassade, die es zu wahren gilt. Ein Psychoanalytiker hätte seine wahre Freude an diesem Buch, das mitten hineintrifft in die MeToo-Debatten, obwohl es nie laut wird oder Schuld ausspricht.
Marie NDiaye: Die Rache ist mein, Suhrkamp Verlag , 238 Seiten, 22 Euro.