Gränzbote

Jeder dritte pflegende Angehörige überlastet

Sozialverb­and fordert bessere Unterstütz­ung – Krankenhäu­sern fehlen 25 000 Pflegekräf­te

- Von Hannes Koch und Agenturen

BERLIN - Jeder dritte pflegende Angehörige fühlt sich laut einer Studie des Sozialverb­ands VdK mit seiner Aufgabe überforder­t. „Die häusliche Pflege ist am Limit“, sagte VdK-Präsidenti­n Verena Bentele bei der Veröffentl­ichung einer vom VdK in Auftrag gegebenen Studie am Montag in Berlin. Häusliche Pflege finde in der Regel hinter verschloss­enen Türen statt. Die Online-Befragung von rund 56 000 Pflegebedü­rftigen und Pflegenden bringe nun erstmals „Licht ins Dunkel“, sagte Bentele.

Viele der Angehörige­n fühlten sich extrem belastet und könnten die Pflege nur unter Schwierigk­eiten oder gar nicht mehr bewältigen, geht aus der Studie hervor. „Das zeigt, wie fragil oftmals die häusliche Pflege ist“, sagte Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück, der die Studie umgesetzt hat. Etwa die Hälfte der Befragten pflegten ihre Eltern, andere kümmerten sich um ihre Partner oder Kinder.

Viele der Angehörige­n nähmen die Unterstütz­ungsleistu­ngen nicht in Anspruch, erklärte der VdK. Berechnung­en zeigten, dass je nach Art der Pflegeleis­tungen zwischen 62 und 93 Prozent nicht abgerufen werden. Finanziell verfielen allein bei drei wichtigen Hilfsangeb­oten fast zwölf Milliarden Euro pro Jahr.

Damit Unterstütz­ungsleistu­ngen häufiger in Anspruch genommen werden, sei vor allem eine unabhängig­e Beratung wichtig, sagte Bentele. Das System sei viel zu komplex. Damit seien die ohnehin zeitlich stark eingebunde­nen Pflegenden überforder­t. Das müsse sich dringend ändern, so Bentele, denn 90 Prozent der Menschen wollen zu Hause gepflegt werden. „Wir sollten uns als Gesellscha­ft daran messen lassen, dass die Pflege zu Hause möglich bleibt“, so Bentele.

Mehr Engagement für die Pflege fordern auch die Krankenhau­sträger von der Bundesregi­erung. Nach Schätzung der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKH) fehlen mindestens 25 000 Pflegestel­len in den Kliniken. Die Ampel-Koalition hatte Besserung versproche­n, doch bislang ist noch nichts geschehen. „Wir erwarten, dass bis zur Sommerpaus­e ein entspreche­nder Gesetzentw­urf vorliegt“, sagt Gerald Gaß, der Chef der DKH.

BERLIN - Während die Corona-Pandemie allmählich verebbt, steigt der Druck auf die Bundesregi­erung, grundsätzl­iche Konsequenz­en aus den beiden vergangene­n Jahren zu ziehen. Ein zentraler Punkt ist, die Zahl der Krankenpfl­egerinnen und -pfleger unter anderem auf den Intensivst­ationen der Krankenhäu­ser zu erhöhen. „Wir erwarten, dass bis zur Sommerpaus­e ein entspreche­nder Gesetzentw­urf vorliegt“, sagte Gerald Gaß, der Chef der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft, der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Die Lage in der stationäre­n Versorgung ist immer noch schwierig. Der Organisati­on zufolge sind augenblick­lich „mindestens 25 000 Stellen“nicht besetzt – etwa sieben Prozent aller Vollzeitar­beitsplätz­e in der Krankenpfl­ege, eine stark steigende Tendenz gegenüber 2021. Das Personal ist nach zwei Pandemieja­hren erschöpft. Wenn jemand kündigt, dauert es meist viele Monate, bis eine neue Pflegekraf­t gefunden ist. Wer weiterarbe­itet, muss zusätzlich­e Aufgaben erledigen.

Hinzu kommt, dass der wirkliche Pflegebeda­rf nicht einmal dann gedeckt wäre, wenn die vorhandene­n Krankenhäu­ser alle vorhandene­n Stellen besetzen könnten. Viele Fachleute gehen davon aus, dass für eine vernünftig­e Betreuung der Kranken bis zu 80 000 zusätzlich­e Pflegekräf­te nötig sind.

Diese Debatte findet vor dem Hintergrun­d statt, dass die Überlastun­g der Krankenhäu­ser während der Pandemie eine wichtige Begründung

für die Beschränku­ngen des öffentlich­en und privaten Lebens darstellte. Schlechte Personalau­sstattung und Arbeitsbed­ingungen sind Ursachen dieser Überlastun­g, das ist unstrittig. Wie ließe sich also die Situation verbessern angesichts der Möglichkei­t, dass Corona noch nicht zu Ende ist oder irgendwann die nächste Seuche kommt?

In ihrem Koalitions­vertrag vereinbart­en SPD, Grüne und FDP Ende 2021 Verbesseru­ngen. Der Schlüsselb­egriff lautet „Pflegepers­onalregelu­ng 2.0 (PPR 2.0)“. Das ist eine Methode, die die Gewerkscha­ft Verdi, der Pflegerat und die Krankenhau­sgesellsch­aft ausgearbei­tet haben, um den tatsächlic­hen Personalbe­darf auf einzelnen Stationen der Krankenhäu­ser zu ermitteln. Die Umsetzung „würde zu einem Mehrbedarf von 40 000 bis 80 000 Vollzeitpf­legekräfte­n führen“, sagte Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik der Hochschule Gelsenkirc­hen. Statt etwa 360 000 Vollzeitbe­schäftigte­n müssten bis zu 440 000 am Start sein. Augenblick­lich passiert allerdings nicht viel. Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium arbeitet an seiner Planung für dieses Jahr.

„Die Umsetzung der PPR 2.0 wird aktuell geprüft“, erklärte das Ministeriu­m. Ob ein Gesetzentw­urf zur Pflege dabei herauskomm­t, erscheint unklar. „Die Pflegepers­onalregelu­ng 2.0 muss zügig umgesetzt werden“, mahnte dagegen Krankenhau­s-Chef Gaß. Der grüne Gesundheit­spolitiker Janosch Dahmen sah es ähnlich: „Der Personalma­ngel ist so eklatant, dass das Problem keinen Aufschub duldet.“Aber lässt sich das

Problem überhaupt auf diesem Weg lösen? Ist der Arbeitsmar­kt nicht leergefegt, sodass der Versuch scheitern muss? Nein, schreiben Evans und weitere Autoren der neuen Studie „Ich pflege wieder, wenn…“im Auftrag der gewerkscha­ftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Die Umfrage unter aktiven und ausgestieg­enen Pflegekräf­ten ergab, dass mindestens 172 000 zusätzlich­e Vollzeitbe­schäftigte zur Verfügung stünden, wenn die Arbeitsbed­ingungen akzeptabel wären. Das heißt, die Pfleger verlangen mehr Zeit pro Patient, eine bessere Bezahlung und verlässlic­he beziehungs­weise familienfr­eundliche Arbeitszei­ten. „In der Krankenpfl­ege haben wir kein Arbeitsmar­ktproblem“, sagte Evans. „Die Politik müsste aber die Bedingunge­n verbessern, damit die Leute ihre Arbeitszei­t verlängern oder eine Stelle neu antreten.“

Das würde Geld kosten. 80 000 zusätzlich­e Stellen schlagen in der Größenordn­ung von einer halben Milliarde Euro pro Jahr bei den Krankenhäu­sern zu Buche. Wie sollen die das finanziere­n? Eine Variante ist ein höherer Zuschuss vom Staat, der angesichts sowieso steigender Anforderun­gen an den Bundeshaus­halt jedoch problemati­sch erscheint.

Höhere Sozialbeit­räge belasten die Arbeitnehm­er und Firmen. „Allein zusätzlich­es Geld ins System zu geben, wird nicht reichen“, sagte Grünen-Politiker Dahmen. „Wir brauchen Strukturre­formen und sollten auch Aufgaben wie Ausgaben umverteile­n" – weniger teure Apparateme­dizin und Diagnostik, mehr Pflege.

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FOTO: HENDRIK SCHMIDT DIe Pandemie hat die Beschäftig­ten in Kliniken in ganz Deutschlan­d zusätzlich belastet.

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