Gränzbote

„Die Symptome kommen sehr plötzlich“

Zum Tag des Schlaganfa­lls rät Neurologe Wolf-Rüdiger Schäbitz, unerklärli­che Störungen schnell abklären zu lassen

- Von Jörg Zittlau

BREMEN - Allein in Deutschlan­d erleiden jährlich etwa 270 000 Menschen pro Jahr einen Schlaganfa­ll. Er zählt zu den häufigsten Todesursac­hen – und er ist die häufigste Ursache für eine bleibende Behinderun­g im Erwachsene­nalter. Mediziner riefen daher 2006 den Welt-Schlaganfa­lltag ins Leben, der seitdem jedes Jahr am 29. Oktober die Öffentlich­keit für die Erkrankung sensibilis­ieren soll. Heute ist außerdem in Deutschlan­d der Tag des Schlaganfa­lls. Jörg Zittlau sprach aus diesem Anlass mit Professor Wolf-Rüdiger Schäbitz. Er ist Direktor der Universitä­tsklinik für Neurologie in Bielefeld und Sprecher der Deutschen Schlaganfa­ll-Gesellscha­ft.

Herr Professor Schäbitz, im Volksmund heißt es „Mich trifft der Schlag“. Kommt der Schlaganfa­ll wirklich so überrasche­nd und wie aus dem Nichts?

Ja, das ist durchaus charakteri­stisch für ihn. Der Name ist schon richtig gewählt, weil der Schlaganfa­ll akut auftritt und damit auch seine Symptome sehr plötzlich kommen. Es gibt allerdings durchaus Schlaganfa­llTypen, bei denen die Symptome quasi am Betroffene­n vorbeigehe­n.

Sie meinen da vermutlich die transitori­schen Schlaganfä­lle?

Ja, das sind die sogenannte­n TIA, also Transitori­sche Ischämisch­en Attacken oder flüchtige Schlaganfä­lle. Wobei da schon die typischen Symptome des Schlaganfa­lls auftreten können, wie etwa Lähmungen, Empfindung­sstörungen sowie Sprachoder Sehstörung­en. Doch sie gehen innerhalb von Minuten oder Stunden – maximal 24 Stunden – zurück, so dass der Betroffene ihnen oft keine weitere Beachtung mehr schenkt. Zudem zeigen sich dabei oft Symptome wie Schwindel und Koordinati­onsstörung­en, die man nicht gleich mit einem Schlaganfa­ll in Verbindung bringt. Die Leute sagen sich dann: „Okay, mir war ein bisschen schummrig. Doch jetzt geht’s mir ja wieder gut“. Und denken sich dann nichts weiter dabei.

Gedanken müssen sich in solchen Fällen ja vor allem diejenigen machen, die eine besondere Gefährdung für den Schlaganfa­ll besitzen. Was sind denn die größten Risikofakt­oren?

Dazu zählen vor allem Bluthochdr­uck, Diabetes, Fettstoffw­echselstör­ungen, Rauchen und Übergewich­t. Besonders gefährdet sind aber natürlich auch alle Patienten, die im Vorfeld eine Herz- oder Gefäßerkra­nkung hatten, wie etwa einen Herzinfark­t oder eine periphere arterielle Gefäßerkra­nkung.

Spielen Erbfaktore­n eine Rolle?

Ja. Aber nicht in dem Sinne, dass wir ein einzelnes Schlaganfa­ll-Gen haben. Es handelt sich dabei um mehrere Gene, die sich auf mehrere Gefäßfakto­ren auswirken. Wer in der Familie viele Herzinfark­te hat, besitzt nicht nur ein erhöhtes Infarkt-, sondern auch ein erhöhtes Schlaganfa­llrisiko.

Corona wird auch immer wieder als Risikofakt­or genannt …

Ja, bei einer Covid-19-Infektion ist das Schlaganfa­llrisiko erhöht, und die Schlaganfä­lle verlaufen auch öfter schwerer. Sie zählt eben zu den relativ schweren Infektione­n, und bei denen kommt es zur Freisetzun­g von Entzündung­smediatore­n, welche die ohnehin schon beim Schlaganfa­ll ablaufende Entzündung­sreaktion verstärken und damit den Verlauf ungünstig beeinfluss­en können.

Was ist mit Hormonpräp­araten, wie etwa der Antibabypi­lle?

Ja, die können ein Risiko sein. Wobei man das auch im Zusammensp­iel mit anderen Risikofakt­oren sehen muss, wie etwa dem Rauchen. In jedem Falle würde man aber einer Frau nach einem Schlaganfa­ll von Hormonpräp­araten abraten.

Angenommen, ich habe vorübergeh­ende, aber mir unerklärli­che Seh- und Empfindung­sstörungen gehabt, die möglicherw­eise auf einen Schlaganfa­ll hinweisen. Was sollte ich dann unternehme­n?

Da sollten Sie sich in einem geeigneten Zentrum – am besten in einer Schlaganfa­ll-Station, also einer Stroke-Unit – vorstellen. Wenn freilich Ihre TIA-Symptome bereits drei Wochen zurücklieg­en, dann könnte die weitere Abklärung des Vorfalls auch ambulant, etwa beim Neurologen, Hausarzt oder Interniste­n erfolgen.

Ist dieser Aufwand wirklich nötig für ein Phänomen, das sich nach ein paar Stunden wieder von selbst erledigt hat?

Unbedingt. Denn hinter nicht wenigen TIAs steckt bereits eineSchlag­anfall, also eine manifeste Durchblutu­ngsstörung im Gehirn. Bei bestimmten Symptomen wie etwa einer Lähmung, einer Sprachstör­ung oder einer halbseitig­en Empfindung­sstörung ist dies bei rund 90 Prozent der Fall. Hinzu kommt, dass auch die Patienten, die „nur“eine

TIA haben, gerade in den ersten Wochen ein stark erhöhtes Risiko für einen Schlaganfa­ll haben. Deswegen sollte in jedem Falle eine weitere Abklärung des Vorfalls erfolgen.

Wie geschieht das?

Man untersucht per Ultraschal­l oder bildgebend­en Verfahren wie MRT die versorgend­en Arterien im Gehirn. Zusätzlich untersucht man aber auch das Herz, den Herzrhythm­us und den Blutdruck, um das Risikoprof­il des Patienten verstehen und die weiteren Behandlung­sschritte einleiten zu können.

Wie sieht es mit der Erholung nach einem Schlaganfa­ll aus. Kann beispielsw­eise eine Lähmung wieder komplett zurückgehe­n?

Bei einer TIA oder einem leichten Schlaganfa­ll sind die Aussichten dafür wirklich sehr gut. Die meisten Patienten erholen sich praktisch komplett.

Vorausgese­tzt, sie werden behandelt, oder?

Ja, natürlich. Deswegen ist es ja so wichtig, dass der Vorfall gründlich abgeklärt wird. Sofern sich dabei ein hohes Risiko für weitere Schlaganfä­lle herausstel­lt, bekommt der Patient entspreche­nde Medikament­e. Dazu zählen in erster Linie Blutverdün­nungsmitte­l wie Aspirin. Aber es können auch Blutdrucks­enker und Mittel zur Beeinfluss­ung des Fettstoffw­echsels oder auch DiabetesMe­dikamente angezeigt sein. Das hängt dann von den Begleiterk­rankungen des Patienten ab.

Was wird bei schweren Schlaganfä­llen gemacht?

Hier steht und fällt alles mit der Akuttherap­ie, bei der das Blutgerinn­sel aus dem Blutgefäß geholt wird. Sie muss so schnell wie möglich nach dem Schlaganfa­ll stattfinde­n, gerade hier gilt der Satz: „Time is brain.“Sie kann über die LyseTherap­ie erfolgen, bei der das Gerinnsel medikament­ös abgebaut wird. Oder über die Thrombekto­mie, bei der es mittels eines Katheters aus dem Gehirn gezogen wird. Gerade bei diesem Verfahren sind in den letzten Jahren große Fortschrit­te gemacht worden, da kann man durchaus von einem Durchbruch in der Akuttherap­ie sprechen. Dadurch gibt es mittlerwei­le auch nach schweren Schlaganfä­llen eine realistisc­he Chance, dass die Patienten sich gut davon erholen.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Ein Schlaganfa­ll kann jeden treffen. Manche Symptome wie Schwindel werden von Betroffene­n oft gar nicht beachtet.
 ?? FOTO: EV. KLINIKUM BETHEL ?? Professor Wolf-Rüdiger Schäbitz ist Direktor der Universitä­tsklinik für Neurologie in Bielefeld und Sprecher der Deutschen Schlaganfa­ll-Gesellscha­ft.
FOTO: EV. KLINIKUM BETHEL Professor Wolf-Rüdiger Schäbitz ist Direktor der Universitä­tsklinik für Neurologie in Bielefeld und Sprecher der Deutschen Schlaganfa­ll-Gesellscha­ft.

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