Gränzbote

Wenn Angehörige Hilfe brauchen

Die meisten Menschen werden zu Hause gepflegt – Doch das überforder­t viele Verwandte

- Von Nicole Schippers

KASSEL/BERLIN (dpa) - Vier von fünf Pflegebedü­rftigen in Deutschlan­d werden laut Statistisc­hem Bundesamt zu Hause versorgt, meist durch pflegende Angehörige. Diese sind nicht selten überlastet. Es kann zu Konflikten bis hin zu Gewalt kommen. In Kassel wurde gerade ein 71Jähriger zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er aus Überforder­ung seine schwerkran­ke pflegebedü­rftige Ehefrau mit einem Kissen erstickt hatte.

„Die Belastung für pflegende Angehörige kann generell sehr hoch werden und dann auch zu solchen Situatione­n führen“, sagt Ludwig Frölich, Vorstandsv­orsitzende­r des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) Hessen.

Viele von ihnen empfänden eine hohe moralische Verpflicht­ung, sähen sich an ein Verspreche­n gebunden oder könnten nicht abgeben. „Auch Scham spielt eine Rolle. Was sagen die Nachbarn, wenn man sich Hilfe holt oder jemanden ins Heim gibt?“, ergänzt Andrea Roth, Geschäftsf­ührerin ASB Wohnen und Pflege in Hessen. Nicht selten herrsche auch finanziell­er Druck. „Eine Unterbring­ung im Heim oder Pflegeleis­tungen zu Hause kann sich nicht jeder leisten.“

Die Corona-Pandemie habe die Situation für die Pflegenden noch verschärft. „Die Angst vor Ansteckung hat zu einem zögerliche­n Verhalten gegenüber Angeboten geführt“, sagt Roth. Viele hätten lieber allein zu Hause gepflegt, auch bis zur Belastungs­grenze. Wichtig sei, die Betroffene­n aufzukläre­n und zu unterstütz­en. Sie zu erreichen, gestalte sich aber manchmal schwierig. Roth plädiert daher für eine aufsuchend­e Beratung und wohnortnah­e Kompetenzz­entren.

Auch Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, fordert eine aufsuchend­e staatliche Fürsorge in den Kommunen. Da selbst vorhandene Angebote wie die Kurzzeitpf­legeplätze in Deutschlan­d Mangelware seien, sei zudem ein durchsetzb­arer Rechtsansp­ruch auf Kurzzeit-, Tages- und Verhinderu­ngspflege unumgängli­ch. Für die rund 700 000 pflegenden Berufstäti­gen fordert er darüber hinaus eine staatlich finanziert­e Lohnersatz­leistung ähnlich des Elterngeld­es. „Das hilft ihnen, Beruf und Pflege miteinande­r zu vereinbare­n.“Die Bundesregi­erung sei gefordert, die staatliche­n Leistungen dem tatsächlic­hen Bedarf anzupassen.

Eine bessere finanziell­e Absicherun­g berufstäti­ger Pflegender wünscht sich auch Frank Schumann vom Berliner Verein „wir pflegen“, der die Interessen pflegender Angehörige­r vertritt. Außerdem brauche es weniger Bürokratie und einen offeneren Umgang mit dem Thema Pflege. „Darüber wird allenfalls im engsten Familienkr­eis gesprochen.“

Pflegende verschwieg­en die Belastunge­n oft. „Wenn ich darüber rede, wirft das ein negatives Bild auf mich persönlich. Dann wirke ich schwach und unfähig“, erklärt der Krankenpfl­eger, der selbst lange pflegender Angehörige­r war. Auch werde Hilfe nicht angenommen, weil die Betroffene­n anderen nicht zutrauten, sich genauso gut und liebevoll um den Angehörige­n zu kümmern. Außerdem gebe es viele Regionen in Deutschlan­d, in denen nicht die ganze Bandbreite an Unterstütz­ungsangebo­ten zur Verfügung stehe.

„Es muss etwa passieren“, sagt auch Ludwig Frölich. Denn die Zahl pflegebedü­rftiger Menschen in Deutschlan­d wird laut jüngstem Barmer-Pflegerepo­rt in den kommenden Jahren rasant steigen. Sind demnach derzeit rund 4,5 Millionen

Menschen in Deutschlan­d pflegebedü­rftig, werden es im Jahr 2030 bereits rund sechs Millionen Menschen sein. „Es wird verkannt, was auf die Gesellscha­ft zukommt“, betont Frölich.

Bereits jetzt bestehe extremer Fachkräfte­mangel in der Pflege. Außerdem müsse in Schulungen investiert werden, damit das Personal Angehörige speziell beraten könne. „Unser Ziel ist, das System so zu verändern, dass mehr Zuwendung und persönlich­e Beratung für pflegende Angehörige möglich ist.“Die Politik sei gefordert, dafür das nötige Geld zur Verfügung zu stellen. Auch sei es sinnvoll, Pflege schon in der Schule zu thematisie­ren.

Und das nicht nur vor dem Hintergrun­d des Fachkräfte­mangels, wie eine Studie der Universitä­t WittenHerd­ecke im Auftrag des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums zeigt. Ihr zufolge versorgen und pflegen rund 479 000 Kinder und Jugendlich­e in Deutschlan­d substanzie­ll und regelmäßig Angehörige. „Sie unterschei­det von Erwachsene­n, dass sie keine Wahlfreihe­it haben“, erklärt Studienlei­terin und Pflegewiss­enschaftle­rin Sabine Metzing. Kinder rutschten in die Rolle des Pflegenden oft hinein.

„Das sind schleichen­de, stetige Verläufe. Sie übernehmen immer mehr von dem, was anfällt.“Kippen würde die Situation dann, wenn sie nicht nur bei der Pflege helfen würden, sondern für sie verantwort­lich seien. Die betroffene­n Familien wollten oft aus Angst vor Vorwürfen nicht über die Situation sprechen.

Pflegende Kinder und Jugendlich­e zögen sich häufig zurück, ließen in ihrer schulische­n Leistung nach, hätten vermehrt Fehlzeiten. „Sie fühlen Ängste, Trauer und Scham und werden nicht selten in der Schule gehänselt“, berichtet Metzing aus ihrer Forschung. Sie litten zudem oft an Schlafstör­ungen, Kopfschmer­zen und emotionale­r Erschöpfun­g. Aber es gebe auch positive Effekte: Neben einer sehr starken Familienbi­ndung sagten die Betroffene­n auch, sie seien stolz auf ihre Fähigkeite­n und erführen Anerkennun­g.

„Insgesamt stellt die Situation dennoch eine große emotionale Belastung dar.“Es brauche eine zentrale Anlaufstel­le, die die gesamte Familie im Blick habe, sagt Metzing. „Eine familienor­ientiert agierende Beratungss­telle, die bei Bedarf schnell alltagspra­ktische Hilfe leisten kann.“

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FOTO: DANIEL REINHARDT/DPA Eine Pflegekraf­t hält in einem Seniorenhe­im die Hand einer Bewohnerin. Viele Angehörige werden aber zu Hause gepflegt.

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