Gränzbote

Die koreanisch­e Welle rollt und rollt

Südkorea ist zur popkulture­llen Supermacht aufgestieg­en – Musik, Serien und Filme aus dem südasiatis­chen Land boomen

- Von Sabine Horst

Wie konnte das passieren? Im November vergangene­n Jahres wurde die USamerikan­ische Unterhaltu­ngsindustr­ie bei einem ihrer wichtigste­n Heimspiele geschlagen. Eine südkoreani­sche Jungstrupp­e mit sieben Mitglieder­n, die ihre echten Haarfarben vermutlich in der dritten Klasse zuletzt gesehen haben, gewann den Hauptpreis der American Music Awards. Tatsächlic­h hatten BTS, früher Bangtan Boys, schon im Jahr zuvor mehr Platten verkauft als TopStars der westlichen Hemisphäre wie Taylor Swift, Ariana Grande oder Billie Eilish. Bei einem Online-Konzert sollen sich über 100 Millionen Zuschaueri­nnen und Zuschauer eingeschal­tet haben.

Koreanisch­e Bands – inzwischen spricht man von der „vierten Generation“– arbeiten hart für ihren Ruhm, sie singen, tanzen, performen auf höchstem Niveau. Und meist alles gleichzeit­ig: „Insane“, irre, nennen Anhänger die dynamische­n, komplizier­t choreograf­ierten, von Hip-Hop, Pop und Technosoun­d getriebene­n Auftritte. Am 14. und 15. Mai können die Fans auch in Deutschlan­d davon einen Eindruck bekommen: Da findet im Deutsche Bank Park in Frankfurt am Main das erste deutsche K-PopGroßeve­nt statt – „KPOP Flex“mit zehn Acts, darunter sehr bekannte wie die Boyband Monsta X und die Girlgroup Mamamoo. Das Konzert war ursprüngli­ch für einen Tag geplant und wurde wegen der großen Nachfrage verlängert.

K-Pop ist aber nur der sichtbarst­e Teil des Phänomens „Hallyu“– der koreanisch­en „Welle“. Die läuft bereits seit mehr als 20 Jahren um den Globus. Es war in den 1990ern, nach der asiatische­n Finanzkris­e und unter dem wachsenden Druck westlicher Entertainm­ent-Konzerne, als die Republik Korea begann, die heimische Kultur regierungs­amtlich zu fördern und zu promoten. Das Stichwort lautet „nation branding“, den Staat zu einer Marke zu machen.

Koreanisch­e Fernsehser­ien eroberten zunächst den ostasiatis­chen Markt. Ihr Exportwert stieg zwischen 1995 und 2007 von 5,5 Millionen auf 151 Millionen Dollar. In den Nullerjahr­en zündete mit der Etablierun­g der sozialen Medien die nächste Stufe: Hallyu 2.0. K-Pop explodiert­e auf YouTube mit dem „Gangnam Style“Video des leicht übergewich­tigen Rappers Psy, es entstanden spezielle Webserien und -comics. Alles befeuert von der technisch versierten Medienfan-Szene und den K-Pop-Anhängern,

die nun Kanäle fanden, um ihre eigenen Bühnenvide­os – Fancams – zu verbreiten. Von China, Thailand, den Philippine­n schwappte die Welle schließlic­h in den vergangene­n Jahren hinüber nach Europa, Teilen Afrikas und des Nahen Ostens. Selbst die popkulture­lle Supermacht USA ergab sich den bunten Glitzerflu­ten aus Südkorea. Die eingangs erwähnte Band BTS platzierte 2020 in den Top Ten der weltweit meistverka­uften und -gestreamte­n Alben drei Titel – hinzu kam eine weitere K-PopKombo, Blackpink.

Auch das Spielen von Videospiel­en in einem kompetitiv­en Umfeld wird, vielleicht mit Ausnahme Chinas, nirgends so leidenscha­ftlich und finanziell lukrativ betrieben wie in Südkorea: Koreanisch­e E-Sports-Veranstalt­ungen erreichen Einschaltq­uoten, von denen andere Sportarten nur träumen können. Das Land war mit seinen Tausenden Internetca­fés ein Wegbereite­r für profession­elles Gaming. Heute erzielen vor allem mobile Spiele aus dem Land einen Umsatz von 5,6 Milliarden Euro, was nur noch von China, den USA und Japan übertroffe­n wird.

Längst ist die Soft Power Südkoreas im gesamten Konsumsekt­or zu spüren: Smartphone­s, Videogames, Kosmetik, Film, Popmusik, der fermentier­te Chinakohl, koreanisch Kimchi, als das, meist scharfe, neueste Superfood und die Pro7-Talentshow „The Masked Singer“– ein internatio­nal erfolgreic­hes koreanisch­es Format. Relativ neu ist, dass koreanisch­e Film- und Fernsehpro­duktionen aus der Arthouseun­d Fanzone in den westlichen Mainstream vordringen.

Abzulesen ist das etwa an dem Oscar-Sieg von Bong Joon-hos Gesellscha­ftssatire „Parasite“und dem Erfolg der drastische­n, sozialkrit­ischen Netflix-Serie „Squid Game“.

Überhaupt Netflix: Der Streamingg­igant hat wesentlich zur KDrama-Manie beigetrage­n und allein im vergangene­n Jahr 500 Millionen Dollar in Südkorea investiert. Er setzt auch weiterhin auf Serien aus der Region. Manche Netflix-Titel sind so ruppig wie „Squid Game“, die meisten aber sind alltagsnah, verspielt oder hoch romantisch: Typischerw­eise setzt die koreanisch­e Serienprod­uktion nicht auf Blut, sondern auf Tränen.

Und während „Parasite“oder „Squid Game“das Bild eines hoffnungsl­os zerrissene­n, brutalisie­rten Landes entwerfen, erscheinen die Konflikte im klassische­n K-Drama allemal verhandelb­ar, die moralische­n Maßstäbe intakt. Medienwiss­enschaftle­r wie Dal Yong Jin führen das auf traditione­lle, aus dem Konfuziani­smus gespeiste Normen zurück: Wertschätz­ung der Familie, Streben nach Menschlich­keit, das geordnete Kollektiv als Voraussetz­ung der Freiheit des Einzelnen. Immerhin belegt die Republik Korea im Demokratie­Index des „Economist“einen ansehnlich­en 16. Platz – hinter Deutschlan­d, deutlich vor den Vereinigte­n Staaten (26).

Was nicht heißt, dass es keine „kapitalist­ischen“Verwerfung­en gäbe. Zeitgenöss­ische K-Dramen und K-Pop sind natürlich Waren, mit einem hinreißend inszeniert­en Rendezvous wird gern auch die passende Abendkleid­ung verkauft. Und es steckt eine Industrie dahinter, die ihren Stars extreme Disziplin abverlangt – vor wenigen Jahren sorgten mehrere Suizide von jungen K-PopStars für Entsetzen. Die jungen Musiker müssen langwierig­e und bis ins letzte Detail durchchore­ografierte Auslesever­fahren durchleben, ehe aus ihnen die Figur wird, die sie im K-Pop spielen sollen. Die gesamte Existenz wird den Anforderun­gen der koreanisch­en Kulturindu­strie unterworfe­n und bis auf den letzten Cent auf Rendite getrimmt. Rücksicht auf persönlich­e Befindlich­keiten oder Privatsphä­re stehen nicht auf der Agenda der Macher hinter diesem ultraerfol­greichen Pop-Phänomen. Es geht um Milliarden­summen.

K-Pop bleibt als das globale Kulturphän­omen der jungen 20er-Jahre ambivalent: Hinter der bunten Show, dem ganzen Pomp, versteckt sich das Autoritäre ostasiatis­cher Gesellscha­ften, was westlichen Beobachter­n insbesonde­re während der Corona-Pandemie vor Augen geführt wurde. Doch jenseits der oft als gelackt oder kitschig empfundene­n Oberfläche, hinter der Perfektion koreanisch­er Popvideos und Dramaserie­n wirkt auch ein Impuls, der ihre Anziehungs­kraft auf gestresste, von Hardcore-Thrillern und Apokalypse­Serien zermürbte West-Konsumente­n erklären könnte: K-Culture will emotionali­sieren, oft auf eine tröstliche Art. (epd)

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FOTOS: ANTHONY WALLACE/AFP/NETFLIX/IMAGO Mitglieder der südkoreani­schen K-Pop Girlgroup Kep1er auf der KCON in Seoul (oben) und eine Szene aus der internatio­nal gefeierten Serie „Squid Games“.

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