Mehr als nur Muskelkater
Trotz der erneuten Meisterschaft müssen Julian Nagelsmann und die Bayern einige Baustellen schließen
MÜNCHEN - Julian Nagelsmann hielt sich im Hintergrund. Ja, man könnte sagen, er versteckte sich etwas auf dem Podium, das von der DFL zur Ehrung des alten, alten, alten, alten, alten, alten, alten, alten, alten und neuen Meisters FC Bayern rasch aufgebaut worden war. Der Bayern-Trainer überließ seinen Spielern nach dem für die Münchner nicht zufriedenstellenden, aber für die Saison typischen 2:2 gegen den Abstiegskandidat VfB Stuttgart die Bühne zur Feier des zehnten Titels in Serie. Nachdem die (Schalen-)Profis nacheinander das glänzende Stück emporreckten, blickte Nagelsmann, umringt von seinem Trainerteam, schüchtern drein. Bis sich die Spieler dann doch noch an ihren Chefcoach erinnerten und ihm das Ding in die Hand drückten. Hier, ist ja eine Premiere für dich, du Schalenküken!
Seine Kleidung hatte der 34-Jährige gut gewählt: Schwarzes Poloshirt, grau-schwarze Blousonjacke – ein feiner Kontrast zur silbern glänzenden Meisterschale. Doch am Ende seiner ersten von fünf unterschriebenen Spielzeiten ist nicht alles Silber, was glänzt – schon gar nicht golden. Wie beim Triple 2020 unter Hansi Flick oder 2013 unter Jupp Heynckes. Damals konnte es den Spielern gar nicht schnell genug gehen, ihrem Vorgesetzten die Trophäen zu überreichen, die Coaches wurden auf Händen getragen, in die Luft geschmissen. Bei Nagelsmann ist zu konstatieren: Was nicht ist, kann ja noch werden. Aber wie? Und wann?
Die Schale sei „schwerer als erwartet“, gab Nagelsmann nach einem „nicht ganz so leichten Jahr“zu. Er habe „ein bisschen Muskelkater in der Brust“. Und Beklemmungen, gar Bauchweh mit Blick in die Zukunft? In der neuen Saison müssen Veränderungen her, nicht nur personeller Natur. „Natürlich haben wir noch ein paar Baustellen zu schließen im Kader“, sagte Nagelsmann mit schönem Gruß an Sportvorstand Hasan Salihamidzic und fügte hinzu: „Ich habe nichts dagegen, wenn wir ein, zwei Pressingmaschinen kaufen.“Konrad Laimer (24) von RB Leipzig soll der Wunschspieler des Trainers sein. Man kennt sich gut.
Doch auch einige Punkte im System und der Spielausrichtung will und muss Nagelsmann korrigieren und verbessern. Wenn er auch in seinen ersten zehn Monaten an der Säbener Straße eingesehen hat, dass zu viel Tatendrang und Wunsch zur Veränderung (Dreier- statt Viererkette, Auflösung der Positionstreue) bei einer eingespielten Mannschaft abprallen kann. Doch das instabile, teils chaotische Abwehrverhalten bedarf einer Konsolidierung – und das ohne Niklas Süle, der bei Borussia Dortmund bessere Perspektiven sieht. Auch die Arbeit gegen den Ball bereite ihm „Sorgen, das müssen wir in den Griff kriegen“. Hier ist die Zentrale mit Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Offensiv-Freigeist Thomas Müller ebenso gefragt wie die Außenstürmer.
Der Nagelsmann-Fußball hat eine Unwucht, die zum Ende der früheren Dominanz während der Spiele geführt hat. Die Partie gegen den VfB war ihm „zu wild, es hätte auch 10:10 ausgehen können“, beklagte er. Schon beim 1:3 in Mainz sah er neun 100-prozentige Torchancen der Gegner. Unter Flick und Heynckes war „die Balance zwischen Defensive und Offensive“ein oft betonter, klarer Schwerpunkt der Herangehensweise. „Ich wünsche mir, dass wir so spielen wie in der Hinrunde, mitreißend und stabil“, forderte Nagelsmann. Die Diskrepanz der Leistungen von der Hin- zur Rückrunde ist eklatant. Müller findet: „Wir müssen alle Hebel dransetzen, um uns auf ein noch besseres Niveau zu bringen.“
Zuletzt klang Nagelsmann, der Ehrgeizling, etwas zurückhaltender, was neue Lerninhalte betrifft. Am Freitag scherzte er über sich: „Geduld ist eine meiner größten Stärken.“Der Druck wird steigen in seiner zweiten Saison, das Champions-League-Halbfinale sollte es dann bitteschön schon sein. Auf die Frage, wie wichtig der erste Titel im Profibereich für ihn persönlich sei, gab er kürzlich eine bemerkenswerte Antwort: „Sehr wichtig. Wenn ich die Meisterschaft nicht holen würde, dann wäre ich hier nicht mehr Trainer, glaube ich.“