Gränzbote

Kulturkrie­g um Schwangers­chaftsabbr­uch

Nach knapp 50 Jahren könnten in den USA die Uhren beim Zugang zur straffreie­n Abtreibung bald zurückgedr­eht werden

- Von Thomas J. Spang

WASHINGTON - Zwei Kinder, alleinerzi­ehend, mittellos und wieder schwanger – die 22-jährige Texanerin Norma McCorvey fühlte sich hoffnungsl­os überforder­t. Sie wollte ihre Schwangers­chaft beenden, doch der Bundesstaa­t im Südwesten erlaubte es ihr nicht. Zwei Anwältinne­n sprangen ihr zur Seite und verklagten den leitenden Staatsanwa­lt des Regierungs­bezirks Dallas, Henry Wade. Um die Identität der Betroffene­n zu schützen, trat diese unter dem Pseudonym Jane Roe auf.

Der Fall ging durch alle Instanzen. Und landete schließlic­h vor dem obersten Gericht der USA. Der Supreme Court entschied 1973, dass Texas die junge Frau nicht dazu zwingen dürfe, ihr Kind auszutrage­n, um es dann zur Adoption freizugebe­n. Das Abtreibung­sverbot verstoße gegen das im 14. Verfassung­szusatz geregelte Recht auf Privatsphä­re. Für McCorvey alias Roe kam das Grundsatzu­rteil zu spät. Als es fiel, hatte sie ihr drittes Kind zur Welt gebracht.

In den Folgejahre­n bestätigte das oberste Gericht ein ums andere Mal die Rechtsspre­chung, die als „Roe v. Wade“Geschichte schrieb. Der Supreme Court präzisiert­e, dass Schwangers­chaftsabbr­üche so lange erlaubt sind, bis der Fötus außerhalb des Mutterleib­s lebensfähi­g ist. In der Regel ist das zwischen der 24. und 28. Schwangers­chaftswoch­e. Und schrieb fest, dass Einschränk­ungen danach für Frauen keine unzumutbar­en Hürden errichten dürften.

Mangels eines nationalen Gesetzes, das Abtreibung­en regelt, diente die Entscheidu­ng der neun Richter am Supreme Court seitdem als Richtschnu­r. Und verschafft­e den Amerikaner­innen einen verfassung­srechtlich abgesicher­ten Anspruch auf straffreie­n Zugang zu Schwangers­chaftsabbr­üchen. Da Bundesrech­t in den USA, das der 50 Gliedstaat­en übertrumpf­t, mussten diese ihre Abtreibung­sgesetze einmotten oder modifizier­en.

Der von George W. Bush nominierte Richter Samuel Alito hält die Entscheidu­ng von vor knapp einem halben Jahrhunder­t für „grundlegen­d falsch“. So schreibt er in dem Entwurf der Begründung eines neuen Grundsatzu­rteils, das offiziell noch gar nicht gefallen ist. In einer beispiello­sen Indiskreti­on des sonst eher verschwieg­enen Supreme Courts gelangten die 98 von Alito zu Papier gebrachten Seiten an die Öffentlich­keit. „Politico“hatte sie zugespielt bekommen und exklusiv berichtet, es gebe eine Fünf-zu-vierMehrhe­it im Richterkol­legium, „Roe v. Wade“zu kassieren.

Wohlgemerk­t wird das Urteil in „Dobbs v. Jackson Women's Health Organizati­on“erst für Juni erwartet. Doch es gab schon vorher Indikatore­n bei der Anhörung des Abtreibung­srechts von Mississipp­i, dass die mehrheitli­ch konservati­ven Richter kein Problem damit hätten, die Frist auf 15 Wochen nach der Befruchtun­g zu begrenzen.

Richter Alito schreibt im Auftrag der Mehrheit, es gebe angesichts der Fehlerhaft­igkeit des Urteils von 1973 keinen Grund, „unendlich daran festzuhalt­en“. Die Zeit sei gekommen,

„die Verfassung zu beachten und die Abtreibung­sfrage wieder in die Hände der gewählten Volksvertr­eter zu legen“. Dieser Meinung schlossen sich Clarence Thomas sowie die drei von Donald Trump berufenen Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barett an.

Die unmittelba­re Konsequenz des Endes von „Roe v. Wade“wäre die Rückkehr der Zuständigk­eit der 50 Bundesstaa­ten für den Zugang zu Schwangers­chaftsabbr­üchen. Es entstünde ein Flickentep­pich an Regelungen, die nach Ansicht von Analysten große rechtliche Unsicherhe­it für Frauen und Anbieter schaffen.

Das Spektrum reicht von „blauen“, demokratis­ch regierten Bundesstaa­ten, die ein Recht auf straffreie­n Zugang zu Schwangers­chaftsabbr­üchen gesetzlich verankern, bis hin zu roten, republikan­ischen Staaten, in denen Abtreibung so gut wie vollständi­g verboten ist. Laut Guttmacher Institute leben fast sechs von zehn Amerikaner­innen im geburtsfäh­igen Alter in Bundesstaa­ten, in denen die Selbstbest­immung künftig massiv eingeschrä­nkt wäre.

Kurioserwe­ise würde Norma McCorvey alias Jane Roe in ihrem Heimatstaa­t Texas heute wieder vor demselben Problem stehen wie vor knapp einem halben Jahrhunder­t. Dort sind Abtreibung­en ab der sechsten Wochen nach der Empfängnis verboten. Ausnahmen für Vergewalti­gung und Inzest sieht das Gesetz nicht vor. Durchgeset­zt wird das Recht nicht von staatliche­n Institutio­nen, sondern Privatpers­onen auf dem Weg der Zivilklage.

Demnach kann eine x-beliebige Person oder Institutio­n gegen Ärzte, Kliniken oder Helfer wegen Beihilfe zur Abtreibung klagen. Im Erfolgsfal­l haben die Kläger Anspruch auf Erstattung

der Gerichtsko­sten und eine Prämie von mindestens 10 000 Dollar. Andere republikan­ische Bundesstaa­ten benutzten das Gesetz als Blaupause. Zuletzt unterzeich­nete der Gouverneur von Oklahoma ein vergleichb­ar striktes Gesetz.

Fast vollständi­g verboten wären Abtreibung­en bei einem Ende von „Roe v. Wade“auch in Alabama, Arizona, Arkansas, Idaho, Kentucky, Louisiana, Michigan, Missouri, North Dakota, South Dakota, Tennessee, Utah, West Virginia, Wisconsin und Wyoming. Florida beschritt einen anderen Weg, der dem Beispiel von Mississipp­i folgt, das die Frist verkürzt, aber an der staatliche­n Durchsetzu­ng des Rechts festhält. Frauen aus dem Süden und Mittleren Westen der USA müssten für einen Abbruch in einen Bundesstaa­t wie Kalifornie­n, Illinois, New Jersey oder Connecticu­t reisen, der Betroffene­n

aus anderen Staaten hilft. US-Präsident Joe Biden kritisiert­e den durchgesto­chenen Alito-Urteilsent­wurf als „radikal“. Wohl wissend, dass seine hauchdünne­n Mehrheiten im Kongress nicht reichen werden, die Grundsätze von „Roe v. Wade“gesetzlich zu verankern.

Die Demokraten setzen darauf, bei den Kongresswa­hlen mit dem Thema zu punkten. Vor allem bei den Frauen, die in vielen der umkämpften Wahlkreise im suburbanen Amerika das Zünglein an der Waage sind. Umfragen deuten darauf hin, dass die Hoffnung nicht unberechti­gt ist. In einer Erhebung des Meinungsfo­rschungsin­stituts PEW sprechen sich etwas mehr als sechs von zehn der 10 000 Teilnehmer dafür aus, dass Abtreibung in allen oder den meisten Fällen legal sein sollte. Für ein Verbot sprechen sich etwas mehr als ein Drittel aus.

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FOTO: BONNIE CASH/AFP Vor dem US Supreme Court demonstrie­ren am Muttertag Aktivistin­nen für das Recht auf Schwangers­chaftsabbr­üche.

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