Die Vielfalt eines klingenden Universums
Am Wochenende des „Schwäbischen Frühlings“spielt ein Cellist mit Heiligtümern von Johann Sebastian Bach und ein Autor mit dem Innenleben einer Stradivari
OCHSENHAUSEN/ROT AN DER ROT - Die „Musikfestspiele Schwäbischer Frühling“präsentierten am Wochenenende ein vielfältiges Konzertprogramm. Am Samstagabend führte der Cellist Christian Poltéra im Bibliothekssaal von Ochsenhausen durch den Kosmos aller sechs Solosuiten für Violoncello von Johann Sebastian Bach, eingebettet in Lesungen von Wolf Wondratschek. Am Sonntag war die prächtige Klosterkirche St. Verena in Rot an der Rot erfüllt von den Klängen der Stuttgarter Philharmoniker und drei Solokonzerten zum Abschluss von fünf intensiven Konzerttagen des Schwäbischen Frühlings.
Bach beschäftigt Musiker seit Jahrhunderten: Der große spanische Cellist Pablo Casals begann zu seinen Lebzeiten jeden Tag mit einem Stück von Bach. Im Alter von 13 Jahren entdeckte er die gedruckten Noten der sechs Bachsuiten in einem Antiquariat, machte sich die bis dahin fast unbekannte Musik zu eigen und legte nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung damit im Alter von 60 Jahren eine Schallplatteneinspielung vor. Seither gehören die sechs Suiten für Violoncello solo zu den Heiligtümern der Cellisten, ebenso wie die entsprechenden Werke für Violine oder Klavier solo.
Es sind sechs Suiten mit der annähernd gleichen Abfolge von einem Präludium, das den Raum öffnet für die Tonart und sie mit gebrochenen Dreiklängen und Tonleitern erfüllt, gefolgt von verschiedenen französischen Tänzen: Einer schwingenden Allemande, einer hüpfenden Courante, einer getragen schreitenden Sarabande, einem hurtigen Springtanz (Gigue) als Abschluss und dazwischen je einem Paar von Bourréen, Gavotten oder Menuetten. Wie Bach diese Form aber mit Leben und Fantasie füllt, gehört zu den großen Wundern dieses Komponisten und beschert Musikern wie Zuhörern eine schier unerschöpfliche Quelle musikalischer Feinheiten. Oft hört man einzelne Sätze als Zugabe, manchmal eine Suite als Teil eines Kammermusikprogramms, selten aber alle sechs Suiten an einem Abend mit gut zwei Stunden reiner Spieldauer.
Christian Poltéra, der Schweizer Cellist und Artist in Residence des Schwäbischen Frühlings, der auch im Eröffnungskonzert und gemeinsam mit dem Hagen Quartett musiziert hatte, meistert die Aufgabe mit großer Klarheit in der Wahl der Tempi und der Phrasierung. Blitzsauber in der Intonation, in rund ausschwingenden Bögen und bewundernswerter Konzentration gestaltet er die Wechsel von Spannung und Entspannung und arbeitet die Charaktere der einzelnen Tänze und Tonarten heraus: So werden in seinem Spiel die Vielfalt und Einheit zugleich zum Erlebnis.
Wollte man aus dieser Fülle Einzelnes hervorheben, so vielleicht die fünfte Suite in c-Moll mit ihrem ausladenden zweiteiligen Präludium, der melancholischen Allemande und der tiefen Trauer der Sarabande. Hier ist die oberste Saite des Cellos heruntergestimmt (von a nach g), was den dunklen Charakter der Tonart verstärkt. In der sechsten Suite hat Poltéra sein Mara-Cello gegen ein fünfsaitiges Cello (ein Violoncello piccolo mit zusätzlicher e-Saite) getauscht. Der hellere Klang mit den vielen Obertönen und die kraftvollen Fanfarenklänge zu Beginn bescheren nochmals neue Hörerfahrungen.
Dieses „Mara“-Cello, das besondere Stradivari-Instrument mit seiner 300-jährigen Geschichte, hat den musikaffinen Autor Wolf Wondratschek so beeindruckt, dass er ihm bereits zu Beginn der 2000er-Jahre eine Erzählung widmete und das Instrument („ein kostbarer klingender kleiner Palast aus Holz“) selbst über seine verschiedenen Besitzer berichten lässt: vom ersten, jähzornigen und trunksüchtigen Giovanni Mara über die Jahrhunderte und einen dramatischen Schiffbruch hinweg bis hin zu Heinrich Schiff, der das kostbare Instrument seinem Schüler Christian
Poltéra übergab. Aus dieser Erzählung hat Wondratschek wohl einen Teil herausgelöst und in eine Kurzgeschichte verwandelt, die er am Samstagabend im Bibliothekssaal von Ochsenhausen fein ironisch vortrug: den Cellisten Carlos Antonio Pini mit seinem Karpaltunnelsyndrom und seinen Neurologen Dr. Plotkin mit den ebenso treffenden wie merkwürdigen Analysen gibt es auch in „Mara“, dazu aber scheint sich in Wondratscheks Universum eine Schar von psychisch wie physisch angeschlagenen Gestalten zu tummeln.
Freilich passen seine teils beißenden Beobachtungen auch in dieses Konzert, doch wer sich auf eine Lesung aus „Mara“eingestellt hatte, wurde vielleicht wie die Rezensentin irritiert und angeregt, selbst die Beziehungen von „Thema“und „Variation“rund um „Mara“zu ergründen – damit hat man es ja in der Musik auch zu tun.
Zum großen Abschlusskonzert strömte das Publikum am Sonntag schließlich nach Rot an der Rot in die noch kühle, lichtdurchflutete Klosterkirche. Die Stuttgarter Philharmoniker wurden in der schwierigen Kirchenakustik, die die tiefen Streicher bei Bach verstärkt und bei schnelleren Tempi vieles verschwimmen lässt, zu höchst engagierten Partnern der Solisten. Wann erlebt man schon ein Konzert mit gleich drei Solisten an Oboe, Violoncello und Violine?
Hansjörg Schellenberger, der in diesen Tagen auch einen Meisterkurs für Oboe an der Akademie in Ochsenhausen abgehalten hatte, trat mit seiner so warm klingenden Oboe d’amore in die Mitte, um dem Orchester vom Instrument aus die Impulse zu geben. Noch einmal war Christian Poltéra zu erleben, diesmal in Joseph Haydns musikantischem zweiten Cellokonzert: in den höheren Lagen brachte er sein Instrument wunderbar zum Singen, in feinem Dialog mit den Orchesterstreichern und Schellenberger, der die Philharmoniker nun umsichtig und klar leitete.
Nach dem Bach-Marathon am Vorabend wirkte Cellist Christian Poltéra gleichwohl entspannt und souverän in allen virtuosen Läufen und Registerwechseln. Das letzte Wort aber hatte Intendant Linus Roth mit seiner Stradivari und den blühenden Melodien von Felix Mendelssohns Violinkonzert: Oft gespielt, oft gehört und doch immer wieder strahlend festliche Frühjahrsmusik. Auf Wiederhören zum Schwäbischen Frühling 2023 mit Bratschentönen von Niels Mönkemeyer!