Die Kunst des „Obenbleibens“in Zeiten der Hiobsbotschaften
Unsere Autorin spürt dem Gefühl des Hinterherhechelns und der Ausweglosigkeit nach – und möglichen Auswegen
Essay von Christine Leutkart
Die schmale Straße, auf der ich mit dem Auto fuhr, führte schnurgerade mitten ins Meer. Seltsamerweise teilte sich das Wasser rechts und links der Straße. Brav machten die Wellen am Randstein Halt, so dass ich unbehelligt ins Gaspedal treten konnte. Glücklich erregt folgte ich dem Weg, vom tiefen Blau des Wassers umgeben, über mir der weite Himmel. Ich fühlte mich unverletzlich und mutig. Eins war sicher: Es gab keine Umkehr, denn die Straße war viel zu schmal, um auf ihr zu wenden. Wohin würde sie mich führen? Die Wellen schwappten über den Randstein. Erste Bedenken meldeten sich. Jeden Moment konnten Straße, Auto und ich überschwemmt werden. Wie war ich nur hierher geraten? Die Angst wuchs. Mit der verrückten Hoffnung, irgendwo anzukommen, wo es sicher war, erhöhte ich die Geschwindigkeit. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich wusste, dass ich in meinen sicheren Tod raste.
Nach dem Aufwachen blieb vor allem ein Gefühl zurück: das der Ausweglosigkeit.
Gewöhnt an die ununterbrochene Berichterstattung, bekommen wir manchmal sogar simultan zum Geschehen selbst - die neuesten Katastrophenmeldungen serviert. Wir hecheln ihnen hinterher und fragen uns, was sie für unser Leben bedeuten. Es gibt unendlich viele ungelöste Krisenherde auf der Welt: Andauernde Kriege. Hungersnöte, Naturund Umweltkatastrophen, Armut. Der Klimawandel löst eine Kettenreaktion mit unkalkulierbaren Folgen für Tiere, Pflanzen und Menschen aus und drängt auf konsequente Lösungen. Das Corona-Virus beschäftigt uns schon seit zwei Jahren, und es ist möglich, dass wir immer wieder mit Pandemien dieser Art leben müssen. Und als würde das nicht reichen, nimmt seit einigen Wochen das Kriegsgeschehen in der Ukraine unsere Aufmerksamkeit gefangen. So sehr wir es uns wünschen, ist auch hier keine schnelle Lösung in Sicht.
Das Schlimmste aber ist, dass keine der aufgezählten Krisen einfach aufhört, um der nächsten Platz zu machen. Stattdessen gibt es eine Kumulierung: Eine Krise kommt zu den bereits bestehenden dazu.
Dass die Welt ein unsicherer Ort ist, wussten wir schon immer. Aber sie wird offenbar immer unsicherer. Tagsüber mögen wir so funktionieren, wie man es von uns kennt, aber in dunklen Stunden übernimmt das Unterbewusstsein die Führung. Es schickt uns auf eine Reise ins tiefe, unergründliche Meer unserer Ängste.
Das Alte Testament erzählt davon, wie der Gottesglaube des Propheten
Hiob auf die Probe gestellt wurde. Sein Hab und Gut wurde ihm genommen, seine Kinder starben und er wurde von einer schweren Krankheit befallen. Trotzdem versicherte er: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt.“(Hiob 1, 21). Das, was damals die Aufgabe seiner Knechte war, nämlich die Schreckensnachrichten – also Hiobsbotschaften - zu übermitteln, übernehmen heute die neuen Medien. Was machen die unablässig auf uns einhämmernden Schreckensnachrichten mit uns? Stumpfen wir angesichts ihrer Häufigkeit ab, oder erhöhen sie unseren inneren Stress, den wir angesichts von Beruf, einem herausfordernden Alltag und vielleicht noch persönlich bedingten Krisen sowieso schon haben? Verlieren wir unseren Glauben an die Zukunft, an Gott, an das Gute im Menschen? Begeben wir uns wie Hiob demütig in unser Schicksal, resignieren wir - oder begehren wir auf? Versuchen wir, das Ruder herumzureißen? Wenn wir es nur fänden. Wenn wir nur wüssten, wo es ist und wie man es bedient.
Der Neurowissenschaftler Raffael Kalisch stellt in seinem Buch „Der resiliente Mensch“(2021) fest, dass der Mensch am liebsten alles im Voraus wissen möchte; Ungewissheiten empfindet er als unangenehm. Wenn das Gefühl der Bedrohung hinzukommt, gerät er in Stress. Depressionen und Angstzustände können eine
Folge davon sein. Resilienz beschreibt er als „die Aufrechterhaltung oder die schnelle Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während und nach Widrigkeiten“. Wer resilient ist, verfügt laut Kalisch über einen „positiven Bewertungsstil“, das heißt, ein resilienter Mensch beurteilt eine Gefahrensituation eher nach den Möglichkeiten ihrer Bewältigung, als davon auszugehen, dass alles schlimm enden wird und man der Situation hilflos ausgeliefert ist. Eine psychologische Widerstandsfähigkeit also, die dem Menschen in Krisen und besonders stressvollen Lebenssituationen dazu verhilft, „oben“bleiben. Der resiliente Mensch geht die widrige Situation aktiv an und erlebt sich als Handelnder, dessen Leben sinnerfüllt ist. Man darf, so Kalisch, aber nicht davon ausgehen, dass Resilienz eine Eigenschaft ist, über die man einfach ein Leben lang verfügt. Sie ist ein Anpassungsprozess, der aktiv bleiben sollte.
Warum gelingt es manchen Menschen besser und anderen schlechter, zu nicht mutlos zu werden und auch in belastenden Zeiten die psychische sowie körperliche Stabilität beizubehalten?
Laut Kalisch sind die Faktoren, die eine resiliente Antwort auf Stressoren (also auf eine Bedrohungslage) begünstigen: eine eher optimistische Lebenseinstellung; die Überzeugung, dass man mit seinen Handlungen etwas bewirken oder verändern kann, was in der Psychologie als „Selbstwirksamkeitserwartung“bezeichnet wird; sowie soziale Unterstützung. Wir brauchen Menschen, die an uns glauben, uns emotionalen Halt geben und für uns da sind, nicht nur in der Not, sondern auch im ganz normalen Alltag. Allerdings sind diese Faktoren nicht unbedingt stabil: Das Erleben von Selbstwirksamkeit kann bei Misserfolgen nachlassen und soziale Bindungen können wegbrechen. Generell wird es jedoch immer einem Menschen, der über eine eher optimistische Grundeinstellung verfügt, leichter fallen, mit Krisensituationen umzugehen.
Es hat sich in den letzten Jahren eine regelrechte Resilienz-Bewegung entwickelt, das Internet ist voll mit Angeboten. Sie tragen vielversprechende Titel wie: „Gelassenheit in stressigen Zeiten“, „Achtsamkeit und Krisenmanagement“, oder „Die Stresswellen souverän meistern“. Psychologe Thomas Gebauer warnt: Resilienz sollte nicht dafür herhalten, um gegen die Ursachen
nichts
von Krisen zu tun. Wenn eine Politik nicht mehr daran arbeitet, für eine bestehende Krisendynamik Alternativen zu entwickeln, kommt ihm das Resilienz-Konzept besonders gelegen: Je widerstandsfähiger der Mensch wird, desto besser ist er in der Lage, sich stressigen Bedingungen anzupassen. Somit kann ihm immer mehr zugemutet werden, ohne dass er sich darüber beschweren oder gar dagegen auflehnen wird.
Hier könnte man von einer „Resilienz-Falle“sprechen.
Vor lauter Anpassungsleistung sollte man also nicht vergessen, den Bedingungen, in denen man lebt, kritisch gegenüber zu bleiben. Sich fragen, ob der Leidensdruck nicht sogar ein gesundes Zeichen und Hinweis darauf ist, dass die Situation den Bedürfnissen des Menschen angepasst werden sollte - und nicht umgekehrt. Werden gesellschaftliche Probleme auf den Einzelnen verschoben, besteht die Gefahr, dass das kollektive und politische Handeln abnimmt.
Man könnte es aber auch so sehen: Gerade die Energie, die eine persönliche Resilienz freisetzt, lässt sich für gesellschaftliches und politisches Engagement nutzen.
Wie gehen andere mit den täglichen Hiobsbotschaften und den drängenden Themen unserer Zeit um, welche Bewältigungsstrategien haben sie? Was tun sie – und was lassen sie?
„Diese Flut an Krisennachrichten finde ich schwer auszuhalten und dosiere sie ganz bewusst. Im Moment hält sich meine Zukunftsangst in der Balance. Was mir dabei hilft, ist ganz klar: Sport! Laufen, radeln schwimmen, wandern und viel draußen sein“, sagt E. „Vielleicht bin ich etwas fatalistisch - aber ich denke, ich muss es nehmen, wie es kommt und dann schaue ich, wenn es so weit ist.“
„Jetzt sind nur noch Taten gefragt“, betont H. „Jeder muss bei sich anfangen und endlich konsequent in Richtung Nachhaltigkeit umsteuern. Wenn jeder von uns die Heizung um zwei bis drei Grad herunterdreht und wenn immer möglich aufs Auto (oder Flugzeug) verzichtet, dann wäre das ein entscheidender Schritt in Richtung Energieunabhängigkeit.“
T. beteiligt sich an Demos und vertritt ihre Anliegen in verschiedenen Organisationen: „Die Probleme können nicht zu Hause gelöst werden. Wir müssen die politisch Verantwortlichen dazu bringen, weniger an Wirtschaftsinteressen zu denken als an das, was die Menschen wirklich brauchen: Frieden, eine intakte Umwelt und soziale Gerechtigkeit.“
W. setzt auf ihren Glauben: „Als gläubiger Mensch kann ich im Gebet neu atmen, neue Hoffnung finden (nicht immer), mein Elend ‚abgeben‘ bzw. zu Gehör bringen.“
„Das Wichtigste ist, dass ich mir ganz bewusst mache, welch ein Geschenk dieses Leben ist, wie privilegiert ich bin – und dass ich dafür dankbar bin! Das nicht zu vergessen, ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, versichert B.
Ganz im Sinne des Resilienzkonzeptes stellt sich A. vor, wie sie in einem Katastrophenfall reagieren könnte: „Mir ist es am wichtigsten, gut und fundiert informiert zu sein, damit ich eine Art Strategie entwickeln kann“, sagt sie. „Käme z.B. der Krieg zu uns... hoffentlich nicht, natürlich .... würde ich schauen, wo ich meine medizinischen Kenntnisse und Fähigkeiten einbringen könnte.“
Das Gefühl der Ohnmacht ist ein Faktor, der unsere psychische Stabilität angreifen kann.
Wir können ihm begegnen, indem wir aktiv werden: uns politisch oder sozial engagieren, in Gruppen vernetzen, unseren Lebensstil im Sinne der Nachhaltigkeit verändern. Doch angesichts der zunehmenden Bedrohungen auf unser Leben durch Klimawandel, Artensterben und die Gefahr von Krieg, scheint das Bisschen, was man leisten kann, nie genug.
Und da ist es wieder, das Gefühl des Hinterherhechelns. Und der Ausweglosigkeit.
„Die Medien vermitteln uns täglich, dass auch uns westlichen Industrienationen die schwierigen Realitäten immer näher rücken“, stellt P. fest. „Auch wenn wir uns noch so engagieren, kann es sein, dass wir nichts wirklich verändern. Das ist frustrierend, aber damit muss man leben. Dennoch sollten wir nicht aufhören, es zu tun. Denn während wir Wohlstand abbauen müssen, sollten wir die elementaren Rechte wie Freiheit und Sicherheit entschieden und effektiv verteidigen. Die wesentliche Frage bleibt für mich: Wo bestehen für mich als Einzelner konkrete und realisierbare Veränderungschancen?“
Mein Traum fand übrigens folgendes Ende: Ich legte eine Vollbremsung ein, ließ das Auto stehen, rannte den Weg zurück und sprang aufs Land, zurück in Sicherheit. Dann schirmte ich die Augen von der Sonne ab und suchte mit meinem Blick das Auto. Aber es war nicht mehr zu sehen. Die Wellen hatten es inzwischen überspült. Vor mir lag das weite, blaue Meer. Eine glatte, friedliche Fläche, die im Sonnenlicht funkelte.
Quellen:
Kalisch, Raffael (2021): Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Gebauer, Thomas (2016): Fit für die Katastrophe, Resilienz statt Nachhaltigkeit, https://www.medico.de/resilienzstatt-nachhaltiger-entwicklung16433, abgerufen am 14.04.2022