Gränzbote

Das geraubte Mädchen

Carmen Weiblen wächst als behütetes Adoptivkin­d in Oberschwab­en auf. Dann findet sie heraus, dass sie als Baby in einem chilenisch­en Krankenhau­s ihrer Mutter entrissen wurde.

- Von Frank Hautumm

RAVENSBURG - Das kleine Mädchen, das im chilenisch­en Frühling 1984 im Krankenhau­s des Provinzstä­dtchens La Union kurz nach seiner Geburt stirbt, trägt heute eine kantige Brille, dezentes Make-up und ein paar Tattoos. Ihr Leben, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, hat Carmen Weiblen bislang weitgehend im oberschwäb­ischen Weingarten gelebt; 37 Jahre lang in dem Glauben, dass ihre leibliche Mutter in Chile sie nicht gewollt und „abgegeben“habe – jene Frau, der man noch auf der Geburtssta­tion erzählt hat, ihre Tochter sei tot. Im April 2022 sehen sich die beiden Frauen erstmals bei einem Video-Telefonat ins Gesicht und weinen miteinande­r.

Erst ein paar Tage zuvor ist die Welt von Carmen Weiblen zusammenge­brochen. „Ich habe mich gefühlt, als sei ich von einem Laster überrollt worden“, erzählt sie. Es ist der Moment, als sie herausfind­et, dass die Geschichte, die ihre deutschen Adoptivelt­ern ihr über ihre Herkunft erzählt haben, so nicht stimmt. Carmen Weiblen, heute selbst Mutter, ist – nach allem, was sie bis jetzt weiß – ein geraubtes Kind. Eines von mutmaßlich etwa 20 000 chilenisch­en Kindern, die zwischen Mitte der 1970er- bis Mitte der 90er-Jahre überwiegen­d „privat“ins Ausland vermittelt wurden, insbesonde­re nach Europa und in die USA. Die Organisati­on „Chilean Adoptees Worldwide (CAW)“schätzt, dass nur ein Prozent dieser Adoptionen legal abgelaufen ist. Vor allem während der Pinochet-Diktatur sei Adoption auch ein einträglic­hes Geschäft gewesen, an dem beinah das komplette öffentlich­e System beteiligt gewesen sei: Krankenhäu­ser, Notare, Richter, Rechtsanwä­lte, so CAW. Manchmal seien auch die Adoptivelt­ern direkt involviert gewesen, in den meisten Fällen hatten sie aber wohl keine Ahnung von den Vorgängen.

Carmen Weiblens zweites Leben beginnt, als sie zufällig eine Abschrift ihrer Geburtsurk­unde in die Hände bekommt. Die Geschichte ihrer Adoption, die sie, seit sie ein Kind ist, von ihren Adoptivelt­ern aus Weingarten kennt, hat sie jahrzehnte­lang so hingenomme­n, ohne zu hinterfrag­en. Warum auch? Das Mädchen wächst in Weingarten auf, geht in Ravensburg in St. Konrad zur Schule, feiert mit ihren Freunden Welfenfest und Rutenfest. Mit ihrer Adoptivmut­ter versteht sie sich zwar nicht immer gut, mit ihrem Vater dafür umso besser. Nur ab und zu ist da so ein Gefühl von Fremdheit, auch weil sie manchmal wegen ihres leicht exotischen Aussehens gehänselt wird.

Mit der Geburtsurk­unde in ihrer Hand wächst nun die Neugier auf ihre genaue Herkunft. Fast zeitgleich findet sie im Internet den Bericht eines jungen Chilenen, der als Baby aus einem Krankenhau­s entwendet und in die Niederland­e adoptiert wurde. Die Wahrheit kam erst ans Licht, als sich Alejandro als Erwachsene­r auf die Suche nach seiner leiblichen Familie machte. „Irgendetwa­s hat sich in mir geregt, als ich das las“, erzählt die junge Frau. Sie ruft Alejandro an.

Alejandro Quezada hat zusammen mit Angélica Martínez und Jessica Pincheira 2018 „Chilean Adoptees Worldwide“gegründet, eine Plattform für chilenisch­e Adoptivkin­der weltweit, die als Erwachsene nach ihren Wurzeln suchen. Alle drei sind sie durch eine illegale Adoption ins Ausland gekommen.

Alejandro versteht Carmen sehr gut. 500 Frauen und Männer, die als Kinder von Chile nach Deutschlan­d gekommen sind, haben sich bis heute bei seiner Organisati­on gemeldet, hat er vor Kurzem erst dem WDR berichtet. Und er kann Carmen Weiblen helfen. Er fragt sie nach einer Nummer auf der chilenisch­en Geburtsurk­unde. Sie liest dem Mann in Holland die Zahlen vor und erfährt, dass sie unter dieser Nummer in Chile immer noch gemeldet sein muss – und ihre Familie auch. Die Frage erscheint ihr ungeheuerl­ich: „Willst du wissen, wer deine Mutter ist? Willst du deine leibliche Familie kennenlern­en?“Carmen Weiblen sagt ja.

Drei Tage später bekommt sie von CAW die Auskunft, dass ihre Mutter lebt und dass die junge Frau aus Deutschlan­d noch zwei leibliche Brüder hat. Jetzt lautet die Frage, ob sie mit den bislang unbekannte­n Menschen in Chile Kontakt haben möchte, die ihre Blutsverwa­ndten sind. Wieder sagt Carmen Weiblen Ja. Helfer einer Partnerorg­anisation in Chile fahren zu der Familie, die immer noch in La Union lebt. Als sie die Frau fragen, ob sie eine Tochter hatte, bricht sie in Tränen aus. Dann zeigen die Helfer ihr ein Foto: kantige Brille, dezentes Make-up, ein paar Tattoos. Wenige Tage danach sprechen Mutter und Tochter das erste Mal miteinande­r.

Auch für Carmens Mutter ist die Nachricht zunächst ein Schock. Man hat ihr vor 37 Jahren erzählt, ihr Mädchen habe direkt nach der Geburt wegen gesundheit­licher Probleme intubiert werden müssen, es habe aber nicht überlebt. Eine Leiche sieht die unglücklic­he

Frau nie, es gibt keine Beerdigung, keine Sterbeurku­nde. Einmal fragt sie nach, bekommt zur Antwort, sie solle das besser sein lassen. Eine Ordensschw­ester habe mit der Mutter im Krankenhau­s gesprochen, weiß Carmen Weiblen noch. Die Nonne lebt aber nicht mehr, ergeben Nachforsch­ungen in La Union, die Spur verläuft zunächst im Sand.

Für Stefan Goller-Martin, der als früherer Leiter des Ravensburg­er Jugendamte­s auch tiefe Einblicke in

Adoptionsv­ermittlung­en hatte, ist das kein Zufall: „Wir wissen, dass es solche Fälle von Adoptionen sehr häufig gab und dass oft Ordensschw­estern beteiligt waren. Aus meiner Erfahrung wollte sich dabei aber selten jemand persönlich bereichern. Man hat diese Kinder nach Deutschlan­d oder in andere europäisch­e Länder gegeben aus einem Gedanken der Barmherzig­keit heraus. Das Kind sollte es woanders besser haben als bei seinen leiblichen Eltern in einem armen Land.“

Mehrmals hat er auch erlebt, wie jemand aus dem Schussenta­l später nach seinen Wurzeln gesucht hat. „Die Antwort, die diese Menschen auf Nachfragen von ihren Adoptivelt­ern bekommen haben, waren oft sehr ähnlich wie die, die Frau Weiblen erhalten hat“, sagt Goller-Martin. Meist hieß es dann: „Du bist in einem Waisenhaus abgegeben worden.“In seiner Zeit beim Jugendamt zwischen 1995 und 2005 hat er zahlreiche solche Fälle begleitet, vor allem aus Brasilien, Haiti, Kolumbien, den südasiatis­chen Ländern, aber eben auch aus Chile. Kein Zufall: „Nach Deutschlan­d gab es in Chile oft enge Verbindung­en wegen der deutschen Auswandere­r. Vor allem auch die Ordensschw­estern

Adoptivkin­d Carmen Weiblen

haben dann häufig private Adoptionen in ihre alte Heimat vermittelt.“

Stefan Goller-Martin weiß auch um die seelischen Schmerzen, die meist hinter den Geschichte­n einer Adoption stehen, die auf krummen Wegen zustande gekommen ist und auf einer Erzählung beruht, die sich irgendwann als Trugbild erweist: „Es sind ja zwei neue Geschichte­n. Eine Mutter erfährt, dass ihr tot geglaubtes Kind lebt. Und ein erwachsene­r Mensch bekommt eine zweite Biografie und dazu das Gefühl, einmal wie eine Ware gehandelt worden zu sein.“Für Alejandro Quezada war es eine immerwähre­nde Wunde, dass es angeblich der Entschluss seiner eigenen Mutter war, ihn in fremde Hände abzugeben.

Carmen Weiblen, die in der Erwachsene­nbildung arbeitet, macht einen ruhigen und reflektier­ten Eindruck. In ihr sieht es allerdings anders aus, sagt sie. Es sind genau diese Erschütter­ungen, die sie derzeit durchmacht. „Die Frage vor allem, was wäre mein Leben gewesen, wenn man mich nicht meiner Mutter geraubt hätte? Ich will wissen, woher ich komme. Und ich will meiner leiblichen Mutter Frieden geben.“Ihr Mann und ihre drei Kinder fangen sie auf, auch die zarten Bande, die sie schon nach Chile geknüpft hat.

Und ihre Adoptivelt­ern? Die Situation ist angespannt. Ihre Adoptivmut­ter blockt bei dem Thema komplett ab, sagt sie. Ihr Vater habe Angst, dass sie mit ihm breche. Er wolle sie unterstütz­en, aber der Mann sei krank, könne sich an vieles nicht mehr genau erinnern. Carmen Weiblen, die mit ihrer eigenen Familie nicht mehr in Weingarten wohnt, glaubt, dass ihre Adoptivelt­ern zumindest geahnt haben müssen, dass bei der Adoption etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Sie haben aber wahrschein­lich lieber nicht so genau nachgefrag­t, als ihnen eine Nonne im März 1985 in Chile das fünf Monate alte Mädchen in die Arme drückt. Wahrschein­lich war das für viele Menschen der einfachste Weg, einen unerfüllte­n Kinderwuns­ch zu erfüllen. Unterlagen gibt es angeblich nicht mehr. „Letztlich ist das nichts anderes als Kinderhand­el“, sagt Carmen Weiblen. Mit ihrer

Geschichte will sie anderen helfen, die ein ähnliches Schicksal erlebt haben. Sie will aber auch Menschen sensibilis­ieren, die über eine Adoption aus dem Ausland nachdenken. Ihre Kritik: „Die deutsche Politik ist bisher bei der Aufklärung keine große Hilfe.“

In Chile arbeitet inzwischen Mario Carroza Espinosa Fälle wie den von Carmen Weiblen auf, ein Jurist und Hochschull­ehrer, der sich als Sonderermi­ttler intensiv mit Menschenre­chtsverlet­zungen während der Militärdik­tatur beschäftig­t. Eine belgische Politikeri­n hat in einem Gespräch mit „Chilean Adoptees Worldwide“erst vor Kurzem von einem „internatio­nalen Skandal“gesprochen. Auch Axel Müller (CDU), direkt gewählter Bundestags­abgeordnet­er im Wahlkreis Ravensburg, sieht „in der Tat ein wirkliches Problem“. Das Schicksal von Carmen Weiblen sei kein Einzelfall. In Spanien habe es während der FrancoDikt­atur Ähnliches gegeben, auch dort „leider mit Wissen und Unterstütz­ung von katholisch­en Schwestern in kirchliche­n Krankenhäu­sern“. Müller: „Obwohl gegen bestimmte Personen eindeutige Beweise vorlagen, wurden diese auch nach Ende der Diktatur nie zur Rechenscha­ft gezogen.“

Der Jurist Axel Müller hat als Abgeordnet­er in einer Arbeitsgru­ppe zur Aufarbeitu­ng des Unrechts in der DDR durch die SED mitgearbei­tet. „Es steht im Raum, dass die DDR ebenfalls auf diese Art und Weise Zwangsadop­tionen von Kindern politisch Inhaftiert­er durchgefüh­rt hat.“2021 hat die Bundesregi­erung eine Vermittlun­gsstelle eingericht­et, an die sich Betroffene wenden können. Vorbild dafür war Argentinie­n, das seine Geschichte mit Zwangsadop­tionen gut aufgearbei­tet habe, sagt der Politiker. In Chile folgt man diesem Beispiel nun ebenfalls.

Dass die Aufklärung internatio­nal in Gang kommt, wäre auch der Wunsch von Carmen Weiblen. Noch in diesem Sommer will sie nach La Union fliegen und ihre leibliche Mutter und ihre Brüder besuchen. Ihre Adoptivelt­ern haben Chile mit ihr nie besuchen wollen.

La Union heißt auf Deutsch: die Vereinigun­g.

„Die deutsche Politik ist bisher bei der Aufklärung keine große Hilfe.“

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FOTOS: PRIVAT Carmen Weiblen als Baby in Weingarten, wohin sie mit wenigen Monaten als Adoptivkin­d kam. Carmen will ihre Wurzeln kennenlern­en und ihrer leiblichen Mutter Frieden geben.
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