Krise im Gewächshaus
Steigende Energiepreise lassen Reichenauer Gärtner um ihre Anbaukultur bangen – mit Folgen für die Verbraucher
REICHENAU - Im Gewächshaus von Stefanie Wehrle geht es in diesen Tagen hektisch zu, denn zurzeit ist Hochsaison auf der Bodenseeinsel Reichenau. Gurken, Tomaten und Paprika sind reif für die Ernte und müssen von Wehrle schnellstmöglich geernet werden. Die hauptberufliche Gärtnerin lädt die Gemüsekisten in Kühlfahrzeuge, die die Ware auf direktem Weg zum nächsten Supermarkt oder zum Wochenmarkt bringen. Ist das erledigt, pflanzt Wehrle gleich eine neue Charge Gurkensetzlinge ein. Es muss immer schnell gehen in den Gewächshäusern auf der Bodenseeinsel.
Doch in dieser Saison kommt für die junge Gartenbauingenieurin noch ein neuer Stressfaktor zum üblichen Saisontrubel hinzu. Damit Wehrles Paprika und Gurken überhaupt gut wachsen, müssen die Gewächshäuser, in denen die Pflanzen angebaut werden, mit Gas und Öl beheizt werden. Seit Monaten aber klettern die Preise für ebenjene fossilen Energieträger in die Höhe. Das liegt unter anderem daran, dass die Energie-Nachfrage stark zugenommen hat, seit sich die Weltwirtschaft nach dem Corona-Einbruch erholt hat. Hinzu kommen die Auswirkungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine. An den Rohstoffmärkten hat sich die Angst vor Lieferausfällen und Engpässen breitgemacht.
Ein weiteres Problem, das durch den Ukrainekrieg entsteht: Der Preis für mineralischen Dünger, wie Stickstoff, Phosphor und Kalium, ist im Vergleich zum Vorjahr zwischen 150 und 300 Prozent gestiegen. Russland ist einer der größten Produzenten von Kalium- und Phosphordünger. Doch wegen des Ukrainekrieges fallen Lieferungen aus, teils sind Produzenten von Sanktionen betroffen, Hamsterkäufe leisten ihr Übriges.
Den genossenschaftlich organisierten Gärtnern auf der Reichenau bereitet das alles Kopfzerbrechen. Es gebe schon jetzt eine Knappheit bei den Düngemitteln Kalksalpeter und Kaliumnitrat, sagt Aron Bock, Großhandelsleiter im Reichenauer Gartencenter, das die Gärtnereien auf der Insel mit Betriebs- und Produktionsmittel wie Dünger und Saatgut versorgt. Der Dünger mache normnalerweise fünf Prozent der Gesamtkosten der Gärtnereien aus. „Dadurch, dass sich die Kosten hier mehr als verdoppelt haben, sind es jetzt zehn bis 13 Prozent“, sagt Bock. „Wir kaufen natürlich das, was wir bekommen und sind bei den wichtigen Düngern für diese Saison ausreichend versorgt“, sagt Bock. „Kommende Saison bereitet uns und den Gärtnern allerdings Sorgen, da unsere Lagerflächen begrenzt sind.“
50 Gärtnereibetriebe arbeiten auf der Reichenau als Mitglieder der Reichenau-Gemüse-Genossenschaft. Meterlange Gewächshäuser reihen sich auf der Insel aneinander. 90 Prozent der gesamten Ware wächst auf der Insel in den Glashäusern, der Rest auf Freiland – verteilt auf vier Standorte: den Mutterstandort auf der Insel und die Gärtnersiedlungen auf dem Festland in SingenBeuren, Aach und Mühlingen (Kreis Konstanz). Auf 160 Hektar wachsen über 80 verschiedene Kulturen – vom Blumenkohl bis zur Süßkartoffel.
Gärtnerin Stefanie Wehrle baut auf einer Fläche von 2,1 Hektar Salat, Tomaten, Gurken und Paprika unter Glas an. Im Winter braucht der Salat zwei bis vier Grad Celsius, um wachsen zu können. Tomaten, Gurken und Paprika mögen es mit mindestens 15 bis 17 Grad deutlich wärmer. Im Frühjahr, Sommer und Herbst laufen die Heizungen vor allem nachts, damit die Pflanzen nicht erfrieren. „Der Salat schluckte vergangene Saison von Oktober bis März rund zwei Liter Heizöl auf den Quadratmeter“, erklärt Wehrle. Tomaten, Paprika und Gurken verbrauchen hingegen bis zu sieben Liter Heizöl pro Quadratmeter in der Saison von März bis Oktober. Wehrle heizt mit Gaskanonen und Warmluftöfen. Ein Drittel ihrer Betriebskosten seien Energiekosten, sagt Wehrle. „Vielen Kollegen geht es so“, sagt sie.
Noch seien ihre Öl-Tanks voll. Auch ihr Gaslieferant liefere noch die nötige Menge zum vereinbarten Preis. Wehrle sei froh, dass sie 2021 einen Vier-Jahresvertrag abgeschlossen habe. Damit geht es ihr zwar besser als manchen Kollegen, die dieses oder kommendes Jahr einen neuen Vertrag aufsetzen müssen. Aber sicher fühlt sie sich trotzdem nicht.
Sollte Russland die Lieferung von Erdgas an die deutschen Energieunternehmen abrupt einstellen, müssten die meisten Gasversorger kurzfristig Ersatz einkaufen, um ihre Kunden weiterhin beliefern zu können. Sie habe bereits von einem Kollegen
gehört, dessen Vertrag vom Energieversorger gekündigt wurde, weil dieser die Preise nicht einhalten konnte. „Wenn der Hahn zugedreht wird, bleibt die Frage, ob ein Betrieb so weiter produzieren kann“, sagt sie.
Ungewissheit breitet sich also auf der idyllischen Gemüseinsel aus. Nicht nur steigende Energie- und Düngepreise, auch die steigenden Lohnkosten durch die Mindestlohnanpassung auf zwölf Euro ab dem kommenden Herbst sowie die nachlassende Zahlungsbereitschaft der Endkunden für regionale Lebensmittel wegen der zuletzt stark gestiegenen Inflation machen den Gärtnern zu schaffen. Einige von den insgesamt 50 Erzeugern überlegen deshalb, ob sie überhaupt produzieren oder womöglich ein Jahr aussetzen. Die Reichenau ist im Strukturwandel, der sich mit Putins Angriffskrieg weiter verstärkt: „Es ist eine Arbeit, die niemand machen will“, sagt
Wehrle. Nachfolger fehlen. Vor 25 Jahren gab es noch 160 Gärtner auf der Insel, heute sind davon weniger als ein Drittel geblieben.
Je mehr Probleme die Erzeuger auf der Reichenau haben, desto mehr schlägt das auch auf die Kunden durch. Verkauft wird das Frischgemüse der Reichenau hauptsächlich in Supermärkten in BadenWürttemberg, Bayern, RheinlandPfalz, Saarland und Hessen. Auch Gastronomie und Wochenmärkte beziehen Gemüse von der Bodenseeinsel. Wer es einkauft, muss wegen der gestiegenen Energiekosten auf lange Sicht tiefer in die Tasche greife. Die höheren Energiepreise werden an die Kunden durchgereicht, denn die wenigsten Betriebe haben einen ausreichenden Puffer, um die Mehrkosten selbst zu tragen.
Der heftige Preisschock beim Reichenauer Gemüse komme aber erst noch, sagt Christian Müller, stellvertretender Geschäftsführer der Reichenau-Gemüse-Genossenschaft: „Mit den Abnehmern sind Festpreise vereinbart, die jährlich neu aufgesetzt werden.“Preisverhandlungen für nächstes Jahr stehen diesen Sommer an. „Die Teuerung wird sich erst in der kommenden Periode am Markt niederschlagen“, sagt er. Wie hoch diese ausfallen wird, kann Müller noch nicht sagen.
Sehr wahrscheinlich könne man aber jetzt schon davon ausgehen, dass sich die Anbauzeiten auf der Reichenau ändern werden. Der Saisonkalender wird sich verschieben, weil die Gärtner zu heizärmeren Perioden produzieren müssen, um beim Geld für Öl und Gas zu sparen. Das heißt, Paprika und Co. landen in Zukunft wohl später als gewohnt in den süddeutschen Supermarktregalen. Der Handel hat dann derweil möglicherweise schon längst die Ware aus dem Ausland eingekauft. „Konsumenten müssen sich auf ein anderes Sortiment zu einem anderen Zeitpunkt einstellen“, meint Müller.
Für die Genossenschaft bedeute das einen höheren Druck, mehr in weniger Zeit zu verkaufen. Deshalb müsse man die Ware breiter vermarkten, dadurch steigen wiederum Transport und Verpackungskosten. Ein Drahtseilakt: „Wir müssen darauf achten, dass wir die verbliebenen Kunden nicht verschrecken“, sagt Müller. Diese Unsicherheit schmälert auch die Umsatzprognose für 2022 deutlich. Hat die ReichenauGemüse-Genossenschaft 2021 mit 15 000 Tonnen produziertem Gemüse ein Umsatzplus 14 Prozent auf 41,4 Millionen Euro erwirtschaftet, sei eine „weitere Steigerung zunächst mal nicht mehr erwartbar“, sagt Müller.
Wie sich die einzelnen Betriebe nun an die neuen Herausforderungen anpassen, bleibt abzuwarten. Zumindest Gärtnerin Stefanie Wehrle ist sich aber sicher, dass sie auch nächste Saison noch Gurken, Tomaten, Paprika und Salate anbaut. Das ist ihr festes Ziel. Auch, wenn es schwieriger wird.