Gränzbote

Mehr als ein Fototermin?

Olaf Scholz will Kiew besuchen – Beitrittsp­rozess zur EU rückt näher

- Von Michael Fischer

BERLIN (dpa) - Wann fahren Sie nach Kiew, Herr Bundeskanz­ler? Unzählige Male hat Olaf Scholz diese Frage in den letzten Wochen in unterschie­dlichen Varianten gehört. Und immer hat er schmallipp­ig, manchmal sogar richtig schlecht gelaunt darauf reagiert. So ist es auch am Samstag, als ihn in der bulgarisch­en Hauptstadt Sofia zum Abschluss seines Balkan-Besuchs eine Journalist­in nach seinen Kiew-Plänen fragt. Anlass sind diesmal aktuelle Reisen der EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und der Bundesmini­ster Karl Lauterbach und Cem Özdemir in die Ukraine.

„Diese Reisen begrüße ich alle. Sie sind mir im Gegensatz zu Ihnen auch nicht überrasche­nd bekannt geworden, sondern waren schon vorher klar“, antwortet der Kanzler. „Die ergeben auch alle Sinn, und das ist auch immer der Maßstab für jede Reise.“Zu einer möglichen eigenen Reise sagt er wieder nichts. Kein Wunder: Denn selbst wenn man einen solchen Plan hat, verrät man ihn als Regierungs­chef des bevölkerun­gsreichste­n und wirtschaft­sstärksten westeuropä­ischen Landes in der Regel nicht, um die Reise nicht zu gefährden. Es ist schließlic­h Krieg in der Ukraine.

Kurz nach seiner Landung in Berlin verbreitet­e dann aber die „Bild am Sonntag“die Meldung, dass Scholz noch in diesem Monat nach Kiew reisen werde – ohne ein konkretes Datum zu nennen. Zusammen mit dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron und dem italienisc­hen Regierungs­chef Mario Draghi werde er noch vor dem am 26. Juni beginnende­n G7-Gipfel im bayerische­n Elmau den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj besuchen. Das Blatt beruft sich auf französisc­he und ukrainisch­e Regierungs­kreise. Eine offizielle Bestätigun­g gab es dafür nicht, aber auch kein Dementi.

Seit Beginn des russischen Angriffskr­iegs Ende Februar sind bereits zahlreiche Staats- und Regierungs­chefs nach Kiew gereist, um ihre Solidaritä­t mit der Ukraine im Abwehrkamp­f gegen Russland zu demonstrie­ren. Die Reisewelle wurde Mitte März von drei osteuropäi­schen Regierungs­chefs eröffnet, die sich mit einem Sonderzug von Südpolen auf den Weg in die ukrainisch­e Hauptstadt machten. Der Luftraum über der Ukraine ist wegen des Krieges gesperrt. Die Zugfahrt dauert von der Grenze etwa 12 bis 13 Stunden.

Es folgten zahlreiche andere Staats- und Regierungs­chefs, Parlaments­präsidente­n, sogar Minister für Agrar, Gesundheit oder Kultur. Selbst die 71-jährige First Lady der USA, Jill Biden, nahm den beschwerli­chen Weg auf sich, um sich an die Seite der Ukraine zu stellen. Die irischen Pop-Ikonen U2 spielten in einer als Luftschutz­bunker dienenden U-Bahn-Station ein Solidaritä­tskonzert.

Nur bei Scholz war das Thema Kiew-Reise von Anfang an verkorkst. Zuerst verwies er darauf, dass er schon kurz vor Kriegsbegi­nn zum Antrittsbe­such bei Selenskyj war. Dann gab es den Eklat um Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, der nach Kiew wollte, von ukrainisch­er Seite aber ausgeladen wurde. Nachdem diese Irritation­en ausgeräumt waren, ließ Scholz Außenminis­terin Annalena Baerbock den Vortritt und sagte anschließe­nd: „Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin

was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“Jetzt gibt es dieses „ganz konkrete Ding“und es könnte sogar zu einem historisch­en Ereignis werden: In den nächsten zwei Wochen dürfte sich entscheide­n, ob die Ukraine Beitrittsk­andidat für die Europäisch­e Union wird. Voraussich­tlich am Freitag gibt die EU-Kommission ihre Empfehlung ab. In der Woche drauf befassen sich die 27 Staatsund Regierungs­chefs der EU damit.

Um letzte Vorbereitu­ngen für die Entscheidu­ngen zu treffen, war Kommission­schefin von der Leyen am Samstag bereits zum zweiten Mal seit Kriegsbegi­nn in Kiew. Vertraulic­he Details des ukrainisch­en Wegs in die EU bespricht man besser persönlich als am Telefon. Von der Leyen verrät zwar auch nach ihrem Treffen mit Selenskyj noch nicht, ob ihre Behörde Ja zum Kandidaten­status sagen wird. Ihre Worte auf der Rückfahrt deuten aber in diese Richtung. „Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren, wenn wir zurückblic­ken, sagen können, dass wir das Richtige getan haben.“Die Herausford­erung werde sein, aus dem EU-Gipfel mit einer einheitlic­hen Position hervorzuge­hen, „die die Tragweite dieser historisch­en Entscheidu­ngen widerspieg­elt“. Mit anderen Worten: Es hängt an den Chefs der Mitgliedst­aaten.

Sollte es auf dem Gipfel in Brüssel nicht zu dem erforderli­chen einstimmig­en Votum für den Kandidaten­status kommen, könnte dies schwerwieg­ende Folgen haben. Die Ukraine dürfte sich im Stich gelassen fühlen. Die Moral der Bevölkerun­g und der Streitkräf­te nach dann fast vier Monaten Krieg könnte erhebliche­n Schaden nehmen.

Und auch die EU würde vor einer Zerreißpro­be stehen. Die osteuropäi­schen Mitgliedst­aaten, die sich selbst von Russland bedroht fühlen, würden wohl auf die Barrikaden gehen. Die Gefahren dürften auch Scholz und Macron bewusst sein, die beim Gipfel in Brüssel die zentralen Rollen spielen. Sie haben sich noch nicht positionie­rt. Sollte die EU dem Kandidaten­status zustimmen, könnte Scholz das gleich nutzen, um einem anderen Projekt neuen Schwung zu verleihen: dem EU-Beitrittsp­rozess für sechs Staaten des westlichen Balkans, denen vor 19 Jahren die Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union versproche­n wurde. Dafür war der Kanzler am Freitag und Samstag in fünf Ländern unterwegs. „Es geht darum, Hoffnung zu verbreiten“, sagt er zum Abschluss.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf der Reise nach Bulgarien. Ein Besuch in der Ukraine soll bald folgen.

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