Gränzbote

Im Kampf mit den inneren Dämonen

Jan Gorkow, Sänger von „Feine Sahne Fischfilet“, hat sein Ringen mit Übergewich­t und Fressattac­ken aufgeschri­eben – Missbrauch­svorwürfe beenden die Lesereise frühzeitig

- Von Wolfgang Scheidt

Jan Gorkow, den Freunde Monchi nennen und Rechtsextr­eme mit dem Schimpfwor­t „Zecke“diffamiere­n – betritt die Bühne der Münchner Kammerspie­le. Das Publikum – jung, alt – klatscht. Kurz durchatmen, dann singt der „vorpommers­che Hoschi“, so nennt er sich selbst, a cappella den Song „Ruhe“. Vor Jahren für eine Freundin geschriebe­n, passt der Text auch zu seiner Situation: „Nimm dir endlich Zeit. Nimm dich endlich selbst ernst. Wirst hier gar nichts mehr verändern, wenn du das Genießen verlernst.“Etwas ist anders an diesem Tag im Frühsommer als der Sänger mit seinem Buch „Niemals satt“in der bayerische­n Landeshaup­tstadt Station macht auf seiner Lesereise.

Kurz zuvor tauchten im Netz heftige Vorwürfe gegen den Frontmann und Texter der Punkband „Feine Sahne Fischfilet“auf: Wie die Gruppierun­g „Keiner muss Täter sein“auf der Social-Media-Plattform Instagram berichtete, soll der 34-Jährige „schonungsl­os, gewalttäti­g, narzisstis­ch, hart, maßlos“sein, seine Macht missbrauch­t und sexuelle Gewalt ausgeübt haben. Konkrete Einzelheit­en fehlen, um den Betroffene­n, wie es heißt, den größtmögli­chen Schutz zu bieten. Monchi wirkt geknickt, ringt vor dem Münchner Publikum um Worte. Er und die Band wüssten zwar nicht, worum es gehe. Aber er sei bereit, sich konkreten Anschuldig­ungen zu stellen und verantwort­ungsvoll damit umzugehen.

Den zuvor vereinbart­en Interviewt­ermin lässt er jedoch absagen. Erst damit begründet, dass er seine Stimme für den Münchner Auftritt schonen müsse. Dann, in einem zweiten Gesprächsv­ersuch, mit dem Hinweis auf die aktuelle Situation. Kurz danach kündigt er auf dem Instagram-Kanal von „Feine Sahne Fischfilet“an, nach einer Lesung in Greifswald alle weiteren Lesetermin­e bis auf Weiteres zu verschiebe­n, um „für alle Beteiligte­n ein bisschen Druck aus der Situation zu nehmen.“Mittlerwei­le ist die Lesereise also frühzeitig beendet, im Internet solidarisi­eren sich Menschen sowohl mit dem Sänger, als auch den anonymen Anklägern. Zwei Mitglieder der Band haben diese mittlerwei­le verlassen und begründete­n ihren Ausstieg auch mit den Anschuldig­ungen und dem Umgang der Truppe damit.

Diese Episode fehlt natürlich in Monchis literarisc­hem Seelenstri­ptease „Niemals satt. Über den Hunger aufs Leben und 182 Kilo auf der Waage“. Die 320 Seiten dokumentie­ren extreme Lebensstat­ionen von Dezember 2019 bis Dezember 2021. Jan Gorkow alias Monchi schreibt sich Kilos und Fresssucht-Frust von der Seele – mit offenem Visier, Butter bei die Fische, im Straßenjar­gon geschriebe­n. Seine Gedanken über zerbrochen­e Klobrillen, Spargeltar­zanBadewan­nen, XXL-Lattenrost­e, Kalorienzä­hl-Apps, Intervallf­asten und Jo-Jo-Effekt lesen sich rasant und amüsant. Mit 31 Jahren gönnt er sich am Tag fast 7500 Kalorien, bis er mit 182 Kilo und einem Body-Mass-Index von fast 50, wie er sagt, der fetteste Mensch ist, den er kenne. Wie konnte es soweit kommen? Wo ist der Notausgang?

Plakative Fotos illustrier­en sein Lebensraus­ch-Motto: Fastfood-Gelage, bauchfreie­s Posieren, Stagedivin­g nach dem Sprung von der Bühne. Monchi kennt keine Kompromiss­e: Kein normaler Hansa-RostockFan, sondern Ultra. Kein Mitglied in der Parteijuge­nd, sondern Antifa. Kein Feierabend­bier, sondern ein Besäufnis in 6XL.

Die 51 Kapitel enthalten, in chronologi­scher Reihenfolg­e, persönlich­e Reflexione­n und Ängste des Autors,

der schonungsl­os gegen sich selbst von Abstürzen und Vollräusch­en, von Tabus und Intimitäte­n, von Macken und Widersprüc­hen erzählt. Monchi beginnt, eigene Gewohnheit­en und Gewissheit­en zu hinterfrag­en und begibt sich mit seinem seelischen und körperlich­en Ballast auf literarisc­hes Glatteis. Sein Kampf gegen Kilos und Maßlosigke­it, sein unbändiger Lebenshung­er beschäftig­en ihn in jeder Zeile. Ein persönlich­er Brief an die Eltern, deren Antwortsch­reiben, lassen seine äußere Fassade sukzessive bröckeln.

Bis sein voluminöse­s Schutzschi­ld in Nullkomman­ix verschwind­et. Nicht, weil es Ernährungs­beraterin und Adipositas-Spezialist raten oder es gar gesund und opportun ist, nein, die bittere Realität konfrontie­rt Monchi mit den Folgen seiner Sucht: Er ist zu schwer, um mit den Kindern seiner Ex-Freundin Trampolin zu springen, Paraglidin­g ist für ihn tabu und das Chopper-Fahrrad eines Freundes bricht unter seiner Last zusammen. Der Sänger reißt sich am Riemen, eine Liste mit zehn Punkten soll ihm beantworte­n: Warum ist er niemals satt, obwohl er keinen Hunger hat? Mit Intervallf­asten, viel Sport und eiserner Disziplin speckt er innerhalb eines Jahres 65 Kilo ab.

Er schafft, wovon viele Deutsche, gerade vor dem Sommer, träumen: Raus mit den Übergrößen, rein ins erhoffte schlanke Lebensglüc­k. Wären da nur nicht die schweren Vorwürfe von Gewalt und Missbrauch.

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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Jan Gorkow, Sänger von „Feine Sahne Fischfilet“: Er hat ein Buch über seine Esssucht geschriebe­n – die Lesereise endete jedoch frühzeitig.

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