Gränzbote

Aus dem Alltag eines Straßenkin­ds

Eine 21-Jährige erzählt von ihrer Kindheit in Peru

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BÖTTINGEN (flk) - In ihrer Kindheit war sie täglich auf den Straßen der peruanisch­en Großstadt Cusco unterwegs. Sie und ihre Freunde nannten sich selbst Straßenkin­der, obwohl sie, zumindest nachts für wenige Stunden, so etwas wie ein Zuhause hatten. Heute ist Margoth Alverez Marin 21 Jahre alt. Auf Einladung des Vorsitzend­en Klaus Flad war sie beim Verein La Balanza zu Gast.

Warum Kinder, die ähnlich aufwachsen wie sie, sich selbst als Straßenkin­der bezeichnen? Die Antwort kommt mit einem Schmunzeln: „Spätestens mit etwa zwölf Jahren haben wir oft bis 2 Uhr nachts versucht zu verkaufen.“Selbstgeba­stelte Handarbeit­swaren in der Hand und immer einen flotten Spruch auf den Lippen – so versuchen diese Kinder auf ehrliche Art an etwas Geld zu kommen. Um zu überleben, um sich vielleicht auch einmal eine Süßigkeit leisten zu können.

Sie selbst blieb vor Schlägen verschont, aber ein paar ihrer Freundinne­n

seien von den enttäuscht­en Eltern geschlagen worden, wenn sie ohne Einnahmen nach Hause kamen, berichtet Margoth Alverez Marin. Sie hatte einen Trick: Beim Anbieten der Ware ganz lieb die Wahrheit dazu zu sagen: „Ich habe heute noch nichts gegessen“. Meist kauften die Touristen dann oder luden sie zum Essen ein.

Kurz nach den Schulferie­n, wenn die Eltern zu wenig „plata“(„Silber“) haben, um Schulhefte zu kaufen, werde da auf humorund liebevolle Art auch mal ein Tourist gefragt. Manchmal, beispielsw­eise, wenn La BalanzaVor­sitzender Klaus

Flad für vier Wochen in Cusco weilt, haben die Kinder Glück. Dann gibt es zum Schulzeug meist auch gleich eine Einladung zum Essen dazu. „Niemand hatte genug ‚Silber‘, um satt zu sein“.

Geschlafen hat Margoth Alvarez Marin in ihrer Kindheit von 2 bis 6 Uhr. In einem einfachen kleinen Zimmer mit vier Geschwiste­rn und der Mutter, die „Küche“(ein Gasherd, oft mit leerer Kartusche) im Freien. Dann ging es in die Schule. Wenn „plata“da war, gab die Mutter ihr 50 céntimos (12 Euro-Cent) mit. Mit einem Sol in der Hand (24 EuroCent) fühlte sich das Straßenkin­d eigenen

Worten zufolge schon wie eine Millionäri­n. Und wenn sie nach nächtliche­n Touren die Hausaufgab­en nicht gemacht hatte, dann sei man aus der Schule auch mal abgehauen.

Dass sie auf der Straße in Gefahr war, sexuell missbrauch­t zu werden, war ihr bewusst. Zum Glück sei ihr nie etwas passiert. Einmal habe ein Beschäftig­ter einer Hotelrezep­tion versucht, sie mit 100 Soles für eine „Massage“ins Hotel zu locken. Sie machte sich aus dem Staub. Von Erzählunge­n weiß sie aber, dass ein damals 18-jähriger aus ihrem weiteren Bekanntenk­reis, der als Schuhputze­r in der Innenstadt arbeitete, im Drogenraus­ch ein Mädchen vergewalti­gte und dafür hinter Gitter kam.

Auch wenn ihre Kindheit nicht einfach war, die 21-Jährige schmunzelt und erzählt gerne. Nach ihrem Deutschlan­dbesuch wird sie weiter an der Universitä­t auf Lehramt studieren, denn die coronabedi­ngte zweijährig­e Pause geht bald zu Ende.

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FOTOS: KLAUS FLAD Margoth Alvarez Marin als 13-jähriges Straßenkin­d 2014 (links). Margoth Alvarez Marin 2022.
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