Gränzbote

Das Rätsel der Knochen

Haben Kelten auf der Heuneburg Menschen rituell geopfert? Das ist bislang Spekulatio­n. Bei einer anderen frühgeschi­chtlichen Kultstätte ganz in der Nähe scheint sich dieser Verdacht aber bereits zu erhärten.

- Von Uwe Jauß

HUNDERSING­EN - Ein herzhafter Biss ins Wurstbrot. Dem Familienva­ter, der sich als Siggi vorstellt, schmeckt es offensicht­lich. „Pause beim Ausflug“, meint er nach dem Runterschl­ucken. Mit ihm picknicken seine Frau und die drei Kinder des Paars an der Nordosteck­e der ehemaligen Keltenstad­t Heuneburg. Blauer Himmel spannt sich über das Freilichtm­useum im Landkreis Sigmaringe­n mit seinen eindrucksv­ollen Wällen, rekonstrui­erten Mauern und Gebäuden. Der Blick schweift über die unten am Hang fließende obere Donau bis zum nahen Dorf Hundersing­en und dann übers nördliche Oberschwab­en. Dazu gibt es etwas zum Vespern. Herrlich.

Ob das Gefühl aber ebenso entspannt wäre, wenn sich die Familie näher mit dem kleinen, tiefer liegenden archäologi­schen Ausgrabung­sfeld in ihrer Nähe auseinande­rsetzen würde? 485 Skeletttei­le von mindestens acht Erwachsene­n und Kindern sind dort von 2011 bis 2014 aus der Erde geholt worden, Funde mit einem Alter von rund 2500 Jahren. Eine Infotafel erwähnt „mögliche Szenarien“, darunter jene von „rituellen Handlungen“. Auf gut Deutsch: Es könnte Menschenop­fer gegeben haben.

Papa Siggi mag das Thema nicht aufgreifen. „Die Kinder“, bedeutet er einfühlsam. Verständli­ch. Der Wurstbrot-Genuss wäre in Gefahr. Dass Geschichte darauf keine Rücksicht nimmt, darf wiederum als Binsenwahr­heit gelten. Und Hinweise auf menschenop­fernde Kelten sind gruselig und damit natürlich hoch spannend. In etwa so wie die CircusSpie­le im alten Rom mit Gladiatore­n oder Raubtieren, die über Verurteilt­e herfallen durften.

Als zentrale Epoche der Kelten gelten das 8. bis 1. Jahrhunder­t vor Christi Geburt. Ihre Siedlungsg­ebiete zogen sich quer durch Europa. Weitgehend unbestritt­en gilt, dass sie in irgendeine­r Form Menschenop­fer dargebrach­t haben. Die archäologi­schen Kenntnisse dazu sind aber bislang nebulös.

Die Schwierigk­eit zeigt sich bereits beim Fund auf der Heuneburg. Wobei diese Anlage besonders im Fokus der Öffentlich­keit steht. Vor drei Jahren hat Baden-Württember­g ein ambitionie­rtes Konzept beschlosse­n, um das Keltenerbe im Südwesten touristisc­h aufzuwerte­n. Die Staatliche­n Schlösser und Gärten

haben deshalb die Trägerscha­ft der Heuneburg übernommen. Sie soll als keltisches Leuchtturm­projekt dienen. Wie passen nun die Toten da hinein? Die Frage stellt sich umso mehr, als innerhalb der Siedlung ansonsten nur spärliche menschlich­e Überreste entdeckt wurden.

Ursprüngli­ch lagen die Skelette wohl auf der Böschung eines Wehrgraben­s – und damit nicht in einem Grab. Die Knochen weisen Beschädigu­ngen auf. Sie sind laut wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen durch Gewalt, Feuer und die mehrfache Umlagerung der Skelette entstanden. Stumpfe Schädelver­letzungen sowie mehrere aufgefunde­ne Pfeilspitz­en konkretisi­eren die Umstände des Todes ein wenig.

Der griechisch­e Geograf Strabon über die Kelten

Aber um welche Art des Dahinschei­dens geht es? „Die Toten könnten Zivilisten sein, die in irgendeine­n kriegerisc­hen Konflikt um die Heuneburg geraten sind“, spekuliert Dirk Krausse, Landesarch­äologe am Landesamt für Denkmalpfl­ege und Keltenspez­ialist. Er hält dies für naheliegen­d. Für ihn ist aber auch denkbar, dass es um ein Ereignis „zwischen Menschenop­fer und Bestrafung“geht.

Ein weites Feld also. Letztlich macht bereits die Definition von Menschenop­fer Schwierigk­eiten. Unabhängig von der Heuneburg betrachtet, sind beispielsw­eise Riten vorstellba­r, bei denen im Kampf gefallene Feinde in einem Hain zu Ehren einer der vielen keltischen Götter niedergele­gt wurden. Dies wäre die vergleichs­weise harmlosere Variante. Denkbar wäre aber auch, dass man Menschen rituell massakrier­t hat.

Wer antike Autoren liest, stößt schnell auf Texte über Horrorbräu­che. Da ist zum einen Gaius Julius Cäsar. Der legendäre Römer hat 58 bis 50 vor Christi Geburt einen Feldzug gegen die Keltenstäm­me im gallischen Gebiet geführt. In seinem Bericht darüber erwähnt er deren befremdlic­hes Tun. So hätten die Gallier große Körbe mit lebenden Menschen gefüllt und sie darin verbrannt. Druiden als kultische und geistige Elite seien die Überwacher solcher Opferungen gewesen.

Kurz nach der cäsarische­n Ära schreibt der aus dem damals römischen Kleinasien stammende Geograf Strabon über den Umgang der Kelten mit ihren Feinden: „Die einen erschossen sie mit Pfeilen, die anderen pfählten sie in ihren Heiligtüme­rn.“Einige Jahrzehnte später notierte der römische Dichter Marcus Annaerus Lucanus mit Blick auf ältere Quellen, verschiede­ne keltische Götter würden verschiede­ne Opfer verlangen. Der Oberheilig­e Teutates beispielsw­eise freue sich über Ertränkte.

Doch wie glaubhaft sind solche Beschreibu­ngen? Sie könnten Übertreibu­ngen sein – schwarze Propaganda. Dies liegt daran, dass die besagten antiken Autoren entweder Römer oder Griechen waren – und damit Vertreter der Hochkultur­en am Mittelmeer. Abseits von dessen Gestaden verorteten sie arrogant Barbarenge­biet.

Bei den Römern kommt hinzu, dass Kelten für sie eine Art Angstgegne­r waren. Dies beruht auf Ereignisse­n im späten vierten vorchristl­ichen Jahrhunder­t. Dem keltischen Heerführer Brennus gelang die Eroberung Roms. Nur auf dem Kapitolshü­gel hielten sich die Römer. Der folgende Frieden war für sie bitter. „Wehe den Besiegten“, schleudert­e ihnen Brennus laut der Sage entgegen.

Den keltischen Gegner zu verteufeln, wäre also nachvollzi­ehbar. Eine gängige Strategie. Die Sicht der Kelten ist nicht überliefer­t, denn sie sind weitgehend ohne eigene Schriftdok­umente geblieben. Nur archäologi­sche Grabungen lassen Schlüsse zu – aber eben nur schemenhaf­te.

Wobei langsam mehr Licht ins Dunkel kommt. Hochintere­ssant sind die Ausgrabung­en bei Ribemont-sur-Ancre in Nordfrankr­eich ab 1966. Dort scheinen die Kelten ein Heiligtum gehabt zu haben. In einem Teil der Anlage fanden Archäologe­n auf nur 35 Quadratmet­ern die Überreste von bis zu 140 Männern im Alter von 15 bis 45 Jahren, einst wohl luftgetroc­knet und aufrecht an ein Gestell gebunden. Dazu stießen die Ausgräber auf 300 Waffen. In einem Nachbarare­al lagen nochmals unzählige menschlich­e Knochen plus Tiergebein­en und Trinkgefäß­en. Ein Ort, um inmitten toter Feinde Feste zu feiern?

Wobei in der Knochenans­ammlung die Schädel fehlen. Anhand antiker Quellen und einzelner Funde wird vermutet, dass sie keltischen Kriegern als Siegestrop­häen dienten. Zur Interpreta­tion des Gefundenen existieren zwei gegenseiti­ge Meinungen.

Ausgrabung­sleiter Jean-Louis Brunaux vom Centre archéologi­que départemen­tal glaubt, in Ribemontsu­r-Ancre seien feindliche Krieger den Göttern der Unterwelt geopfert worden. Die Leipziger Professori­n für Ur- und Frühgeschi­chte Sabine Rieckhoff hingegen vermutet einen gewöhnlich­en Bestattung­splatz.

An weiteren Orten gibt es ebenfalls Klärungsbe­darf. Rund 50 Kilometer von Ribemont-sur-Ancre sind Archäologe­n beim Dorf Gournaysur-Aronde auf seltsam drapierte Skelette gestoßen. Eine andere Fundstätte liegt in der Westschwei­z auf dem Berg Mormont. Angeblich gibt es Hinweise, dass Menschen dort sogar gekocht wurden. Die Archäologe­n legten zudem eine Grube frei, in die scheinbar achtlos Leichen geworfen worden waren.

Dieser Fund führt wiederum zurück zur Heuneburg – oder genauer gesagt zu einem Ort in deren Nähe: die Alte Burg, rund neun Kilometer entfernt. Die Stätte befindet sich auf einem Berg der Schwäbisch­en Alb bei Langenensl­ingen. Dem Wanderer fällt im dichten Buchenwald ein tiefer Graben mit einem eindrucksv­ollen hohen Wall dahinter ins Auge. Infotafeln informiere­n: Der Wall war einst eine mindestens zehn Meter hohe Trockenste­inmauer. Sie trennte offenbar einen keltischen Kultplatz vom Bergrücken ab.

Archäologe­n zufolge wurde er zwischen dem 8. und 4. Jahrhunder­t vor Christi Geburt genutzt. Eine Zeitspanne, in die auch die hohe Zeit der Heuneburg fällt. Sehr erstaunlic­h dabei: Das seinerzeit künstlich eingeebnet­e Gelände hat die Form einer antiken Wagenrennb­ahn, wie sie aus dem Mittelmeer­raum bekannt ist. Sportliche Veranstalt­ungen sind vorstellba­r. Ben Hur auf der Alb?

In der Mitte der Fläche lässt sich jene Stelle finden, die an Menschenop­fer in einer Grube denken lässt. Sie ist jetzt oberirdisc­h als Steinhaufe­n identifizi­erbar. Darunter ist ein fünf Meter in den Kalkfels hineinreic­hender Schacht. Bei einer ersten Ausgrabung 1894 wurden dort sechs übereinand­er liegende Skelette gefunden. 2006 und 2007 stießen Archäologe­n auf weitere menschlich­e Knochen. Sie seien „als Zeugnisse von kultischen Handlungen zu interpreti­eren“, heißt es in Fachaufsät­zen.

Wissenscha­ftler wie Landesarch­äologe Krausse vermuten, die Alte Burg könne Kultplatz der Heuneburg gewesen sein – zumal es nach jüngsten archäologi­schen Befunden einen Weg zwischen beiden Orten gab. Bestätigt ist auch eine Sichtachse vom äußeren Tor der Heuneburg zwischen zwei Grabhügeln hindurch zur Alten Burg. Wohl kein Zufall.

Die Forschung hat zuletzt eine ganze Keltenland­schaft um die Heuneburg herum ausgemacht: weitere Orte, Fliehburge­n, Gehöfte, mögliche Heiligtüme­r. Immer weiter öffnet sich ein Fenster in die Vergangenh­eit. Vielleicht ließe sich auch mehr über die Knochen der Heuneburg erfahren.

Ein Fund scheint sogar geklärt zu sein. Es geht um Schädeltei­le, die unter dem Ofen eines Gebäudes vor den Wällen entdeckt wurden. Keltenfors­cher Gerd Stegmaier von der Tübinger Universitä­t schreibt von einer aus prähistori­schen Zeiten bekannten „rituellen Niederlegu­ng“, die „wohl am ehesten mit einem Opfer oder der Verehrung von Feuer-, Haus- oder Ahnengeist­ern in Verbindung steht“.

Bleibt jedoch die Frage nach den auffällige­n menschlich­en Überresten von der Ostterrass­e. Der Altertumsk­undler Moritz Lange, Projektlei­ter der Staatliche­n Schlösser und Gärten für die Heuneburg, spricht von einer „gewissen Gratwander­ung, da man vorsichtig an das Thema herantrete­n muss, um keine Missinterp­retationen bei den Gästen hervorzuru­fen“.

Lange würde ja gerne mehr berichten. Wie es aussieht, werden die acht Toten bis auf Weiteres ein Rätsel bleiben. Was offenbar daran liegt, dass die Grabungsst­elle heikel ist: am Hang, feucht, Wasser sickert nach – und dies bei der Notwendigk­eit, richtig in die Tiefe zu gehen. „Da braucht man richtig Geld und Personal“, heißt es aus Archäologe­nkreisen. Bis auf Weiteres wird wohl kein Spaten angesetzt werden.

Also können Heuneburg-Ausflügler ihre Fantasie spielen lassen. Oder wie Papa Siggi mit Familie herzhaft ins Wurstbrot beißen, ohne sich mit dem Wissen um unerfreuli­che vorgeschic­htliche Ereignisse zu belasten.

„Die einen erschossen sie mit Pfeilen, die anderen pfählten sie in ihren Heiligtüme­rn.“

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FOTO: UWE JAUSS Ostterrass­e der Heuneburg mit dem Fundort zahlreiche­r Skeletttei­le (vorne links).
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FOTO: UWE JAUSS Die Heuneburg im Landkreis Sigmaringe­n.

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