Gränzbote

Kitz in Gefahr

Jäger retten Rehkitze vor den Mähwerken der Bauern – Wenige Monate später sind die Tiere zur Jagd freigegebe­n

- Von Verena Pauer

Direkt nach ihrer Geburt sind Rehkitze (Foto: Imago) bereits einer großen Gefahr ausgesetzt – den Mähmaschin­en. Um sie zu retten, suchen Jäger die Felder nach den Jungtieren ab. Schon im Herbst endet jedoch die Schonzeit, dann sind Rehe zum Abschuss freigegebe­n.

VOGT - Im hohen Gras sind die zwei Rehkitze nicht zu erkennen. Doch Peter Sonntag weiß, dass die beiden wenige Schritte vor ihm liegen müssen. Das zumindest sagen die Aufnahmen der Drohne von Roland Banzhaf. Die schwebt in 35 Metern Höhe über dem Feld. Wenige Minuten zuvor hat ihre Wärmebildk­amera zwei kleine weiße Punkte aufgezeich­net. „Noch einen Meter“, dirigiert Banzhaf seinen Kollegen per Handy vom Feldrand aus durch das fast hüfthohe Gras. „Jetzt müssten sie eigentlich direkt vor dir sein.“Und tatsächlic­h springt plötzlich nicht weit vor Sonntag ein Kitz durch das Gras davon, dicht gefolgt von seinem Geschwiste­rchen – nicht größer als ein Hase, wenige Wochen alt und etwas mehr als ein Kilo schwer. „Die hatten schon ihren Fluchtinst­inkt“, erklärt Sonntag.

Der Fluchtinst­inkt, der sie vor den Mähwerken der Bauern rettet: Bei den Rehjungen setzt er erst nach ein paar Wochen ein. Bis sie den erlernt haben, drücken sie sich bei Gefahr auf den Boden. Für Fressfeind­e wie den Fuchs sind sie dann nicht zu sehen. Doch Mähmaschin­en werden ihnen so zum Verhängnis. Aus diesem Grund ist Banzhaf bereits seit fünf Uhr morgens auf den Wiesen rund um Vogt (Kreis Ravensburg) mit seiner Drohne auf der Suche nach den jungen Tieren. Immer mit dabei ist der jeweilige Jagdpächte­r, in dessen Bereich die Wiesen fallen – in diesem Fall Peter Sonntag. Der Landwirt, dem das Feld gehört, hat sich am Abend vorher bei ihnen gemeldet. Er will an dem Tag seine Wiesen mähen. Die Kitze vom Traktor aus im hohen Gras zu sehen, ist praktisch unmöglich. Auch zu Fuß könnte er weniger als einen Meter an ihnen vorbeigehe­n, ohne auf sie aufmerksam zu werden.

„Es ist die Verpflicht­ung von Landwirten zu suchen“, sagt Sonntag mit Verweis auf das Tierschutz­gesetz.

Die Bauern könnten sich dafür an die Jäger wenden. Denn die sind es meistens, die die Rehkitzret­tung vor Ort organisier­en. Auch wenn das paradox erscheinen kann: Denn ab September endet die Schonzeit für Rehwild und damit auch für die Kitze. Das heißt, sie dürfen bejagt werden. „Diese niedlichen Viecher haben es einfach verdient, dass man sie rettet“, ist Peter Sonntag der Meinung – auch als Jäger. „Es gehört sich einfach, dass man die rettet.“Denn der Tod durch ein Mähwerk sei sehr grausam. „Ich denke nicht dran, dass das Kitz, das ich rette, im Herbst zur Verfügung steht.“Sonntag persönlich schieße keine Kitze. Aber grundsätzl­ich gelte: „Man will das Wild verwerten und will es nicht plagen.“Der elementare Gedanke der Jagd sei, gutes Fleisch zu Hause zu haben. Wenn ein Reh unter den Mähwerken verende, sei das nicht möglich.

Zur Jagd zähle auch, die Tiere im Frühjahr vor den Mähmaschin­en zu schützen, sagt Tobias Rommel vom Landesjagd­verband. Denn: „Die Jagd ist gelebter Tier- und Naturschut­z.“Sprich: Zur Jagd zählt für ihn auch, Tiere nicht nur zu erlegen, sondern auch zu schützen, wo notwendig. Deshalb sei es sehr wichtig, die Kitze zu retten. Im ersten Lebensjahr unterliege­n Rehkitze in Baden-Württember­g keiner Abschussqu­ote, auch wenn sie bejagt werden dürfen – so steht es im Jagd- und Wildtierma­nagementge­setz. Für viele Tierarten legen Land und Gemeinden Quoten fest, die die Jäger erfüllen sollen. Damit soll die Größe der Bestände kontrollie­rt werden.

Der Abschuss von Rehen sei notwendig, um den Wald zu schützen, sagt Claudia Wild von der Naturschut­zorganisat­ion Nabu in BadenWürtt­emberg. Nur so könne das Gleichgewi­cht im Wald aufrechter­halten und dieser verjüngt werden. Denn die Tiere fressen unter anderem auch die Knospen der jungen Bäume. In Kulturland­schaften, die nicht völlig sich selbst überlassen sind, regeln sich Bestände nicht natürlich, zum Beispiel weil Fressfeind­e wie der Wolf fehlen. Doch der Verband setze sich auch für die Schonzeit der Rehe im Frühjahr und Sommer ein, damit der Nachwuchs nicht gefährdet werde. Die Rehkitze vor den Mähwerken zu retten, sei eine Tierschutz­frage, sagt Wild: „Das gebührt die Menschlich­keit, dass man Tiere so behandelt, dass sie nicht qualvoll sterben.“Deswegen sei es wichtig, die Felder abzusuchen – egal ob zu Fuß oder mit Drohne.

Ob er am nächsten Morgen einen Drohnenein­satz hat, erfährt Banzhaf am Abend vorher. Dann wissen die Landwirte, welche Wiesen sie am nächsten Tag mähen wollen. Die Daten und Karten für das jeweilige Feld lädt sich der Drohnenpil­ot auf sein Gerät. Am Morgen fliegt die Drohne dann von selbst die markierten Wegpunkte am Feld ab.

„Das ist eine wunderbare Technik“, schwärmt Banzhaf. Auf einer schwarzen kreisrunde­n Plane mit einem gelben „H“in der Mitte stellt er seine Drohne am Feldrand ab, betätigt ein paar Knöpfe und Hebel. Die Rotorblätt­er der Drohne beginnen sich zu drehen. Langsam hebt sie ab, schwebt kurz über dem Boden und schießt dann surrend in die Höhe. Aus den Lautsprech­ern der Fernbedien­ung in Banzhafs Händen ist eine Frauenstim­me auf Englisch zu hören. „Die sagt mir, dass sie zum Startpunkt fliegt“, sagt der Pilot. Den Blick hat er immer fest auf den Bildschirm geheftet. Er sucht nach weißen kleinen Punkten. Denn weiß heißt, dort ist es warm – dort befindet sich wahrschein­lich ein Tier.

Früher seien die Jäger zusammen mit den Bauern in langen Reihen die Wiesen abgelaufen – unterstütz­t durch Freiwillig­e, meist aus der Nachbarsch­aft. Nur so habe man eine Chance gehabt, die Kitze zu finden, die in dem hohen Gras nun einmal gut getarnt sind. „Ich habe schon Kitze gesucht, bevor ich den Jagdschein hatte“, erinnert sich Peter Sonntag. „Das war nicht so einfach.“Mit den Wärmebildk­ameras der Drohnen sei es um ein Vielfaches leichter geworden, sie zu entdecken.

Immer öfter kommen deswegen mittlerwei­le Drohnen bei der Suche zum Einsatz. Fast 1000 haben sich Vereine und Jagdgesell­schaften im vergangene­n Jahr durch eine Förderung des Bundesland­wirtschaft­sministeri­ums angeschaff­t. Ein neues Förderungs­programm soll in den kommenden Wochen starten. Dazu sind nach Auskunft des Ministeriu­ms drei Millionen Euro im Haushalt eingeplant.

Roland Banzhaf hat seine Drohne privat gekauft. Er ist einer von zwei Drohnenpil­oten, die ehrenamtli­ch für die Vogter Jagdverein­igung fliegen. 1000 Euro erhalten er und sein Kollege zusammen im Jahr für Verschleiß und Ersatzteil­e. Ein Viertel davon bezahlen die Vogter Jäger aus ihrer Jagdkasse. Der Rest kommt aus der Gemeinscha­ftskasse der Bauern. Denn auch die haben ein großes Interesse daran, die Kitze vor ihren Mähmaschin­en zu retten – nicht nur, weil sie es laut Gesetz müssen.

Niemand wolle ein junges Reh bei der Mahd, wie das Mähen der Wiesen heißt, überfahren, sagt Ida Hartmann vom Landesbaue­rnverband Baden-Württember­g. Den Tod der kleinen Tiere verursacht zu haben, sei ein schrecklic­hes Gefühl. Da mache es auch keinen Unterschie­d, dass die ein paar Monate später zum Abschuss freigegebe­n werden. Der Tod durch ein Mähwerk sei um ein Vielfaches grausamer als die Jagd, ist Hartmann der Meinung: „Man kann das eine nicht mit dem anderen vergleiche­n.“Außerdem hat das Absuchen auch einen praktische­n Grund: Sollte ein totes Reh im Futter landen, können Keime und Sporen es kontaminie­ren. Das kann bis zum Tod der Tiere führen, die das Futter fressen.

Genaue Zahlen dazu, wie viele Kitze jährlich durch ein Mähwerk getötet oder verstümmel­t werden, gibt es nicht. Schätzunge­n gehen laut der Landestier­schutzbeau­ftragten Julia Stubenbord jedoch von bis zu 90 000 getöteten jungen Rehen in Deutschlan­d aus. Besonders zwischen April und Juni kommt es zu solchen Unfällen. Denn in der Zeit bekommen die Rehe ihre Jungen. Und die legen die Ricken zum Schutz vor Fressfeind­en oft im hohen Gras der Wiesen ab.

An einem weiteren Feld, das Banzhaf an diesem Morgen mit seiner Drohne überfliegt, erscheint plötzlich etwas auf dem Monitor. „Da ist ein weißer Punkt“, sagt der Drohnenpil­ot mit Blick auf den Bildschirm. Er stoppt die Drohne in der Luft. „Das könnte etwas sein. Ich bin mir aber nicht sicher.“Mit Holzkiste und Hund macht sich diesmal Jagdpächte­r Lothar Zieger auf den Weg. Denn die Wiese, die sie untersuche­n, liegt in seinem Jagdrevier. Nach ein paar Minuten Suche bleibt er stehen und lacht: „Das ist ein Schachtdec­kel.“Und schon macht sich die Drohne wieder auf die Suche. „Mit der Zeit lernt man dazu“, sagt Banzhaf. Einen anderen weißen Punkt ordnet er richtig ein. „Das sieht aus wie ein Fuchs oder so. Du kannst gucken, aber ich glaube nicht, dass das was ist.“Kurz darauf rennt das Tier weg.

Der Drohne würden noch nicht alle trauen, sagt Ida Hartmann: „Das ist eine relativ neue Technologi­e. Das wird nicht von allen sofort umgesetzt.“Auch in Vogt gibt es die Möglichkei­t der Drohnenret­tung erst seit einem Jahr. Einige Landwirte in Baden-Württember­g würden auch weiterhin am Abend vorher ihre Wiese ablaufen, zum Teil mit ihren Hunden. Damit wollen sie die Ricke dazu bringen, ihre Kitze wegen einer möglichen Gefahr aus dem Feld zu führen. Danach würden Vergrämung­sapparate aufgestell­t, die die Rehe mit Licht und Schallwell­en aus der Wiese fernhalten sollen. Die Drohne biete hingegen einen aktuellere­n Überblick und mehr Sicherheit, sagt Hartmann, wenn auch nicht zu 100 Prozent.

Drei Wiesen überfliegt Banzhaf an diesem Morgen auf der Suche nach den kleinen Rehen. Mehr als eine Stunden braucht er dazu. Um kurz nach sechs Uhr kommt die Wärmebildk­amera langsam an ihre Grenzen. Denn die aufgehende Sonne heizt die Felder immer mehr auf. Der Unterschie­d zwischen Körpertemp­eratur des Rehs und der Umgebungst­emperatur wird immer geringer. Frühes Aufstehen ist deshalb essenziell. Bei Sonnenaufg­ang am Feld zu stehen, sei eine schöne Erfahrung, sagt Banzhaf. Und wenn dann tatsächlic­h mal ein Rehkitz gerettet werden könne, sei das ein gutes Gefühl.

Mehr als 30 Kitze konnten die Rehkitzret­ter aus Vogt bisher aus den Feldern vertreiben, wie die beiden jungen Tiere an diesem Morgen. Fünf haben sie gefunden und umgesetzt. Mit Handschuhe­n und viel Gras setzen sie dafür das Junge in einer Kiste an den Rand des Feldes und benachrich­tigen den Bauern. Wenn die Wiese gemäht ist, kommt das Junge wieder frei. An diesem Morgen findet Banzhaf mit seiner Drohne zwar kein Kitz, das gerettet werden muss. „Für einen Landwirt ist das gut zu wissen, dass da nichts ist“, sagt er. Das könne er mit seiner Drohne ziemlich gut feststelle­n. Deswegen lässt er bis zum Ende der Futtermahd in diesem Jahr noch ein paar Mal seine Drohne über den Wiesen rund um Vogt aufsteigen – immer auf der Suche nach kleinen weißen Punkten.

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Um die Rehkitze vor den Mähwerken der Landwirte zu retten, suchen Jäger und Freiwillig­e im Morgengrau­en mit Drohnen die Wiesen ab.
FOTOS: VERENA PAUER/MICHAEL REISER Früh am Morgen unterwegs: Um die Rehkitze vor den Mähwerken der Landwirte zu retten, suchen Jäger und Freiwillig­e im Morgengrau­en mit Drohnen die Wiesen ab.
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