Gränzbote

Habeck ruft die zweite Alarmstufe aus

Wirtschaft­sminister erklärt Gas zum „knappen Gut“– Wirtschaft zeigt Verständni­s

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN (dpa) - Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine klettern die Preise für Lebensmitt­el und Sprit – und nun wird auch noch das Gas sehr knapp. Wegen extrem gedrosselt­er Lieferunge­n aus Russland rief die Bundesregi­erung am Donnerstag die Alarmstufe im Notfallpla­n Gas – die zweite von maximal drei Stufen – aus. Wirtschaft­sminister Robert Habeck mahnte Firmen und Verbrauche­r, Gas zu sparen. Nötig sei eine „nationale Kraftanstr­engung“, erklärte der Grünen-Politiker. „Gas ist von nun an ein knappes Gut in Deutschlan­d. Die Lage ist ernst, und der Winter wird kommen.“Es seien die Versäumnis­se des vergangene­n Jahrzehnts, „die uns in diese Bedrängnis­se geführt haben“.

Habeck rief Bürgerinne­n und Bürger unter anderem dazu auf, Heizungsan­lagen warten zu lassen. Dadurch seien Einsparung­en von 15 Prozent möglich. Rationieru­ngen für die Industrie sollten nach Möglichkei­t vermieden werden. „Das soll nicht passieren, in keinem Monat im besten Fall“, sagte der Minister. Jedoch fügte Habeck hinzu: „Ich kann es natürlich nicht ausschließ­en, weil es so voraussetz­ungsreich ist, was wir tun. Aber es ist kein Szenario, auf das wir hinarbeite­n – im Gegenteil.“

Zurzeit sei die Versorgung­ssicherhei­t gewährleis­tet. Gasverbrau­cher müssten im Moment nicht fürchten, dass ihre Versorger die Liefervert­räge kündigen und höhere Preise verlangen. Dazu bedürfe es eines weiteren Schritts der Bundesnetz­agentur. Generell geht Habeck aber von weiter steigenden Preisen aus. Das werde sich auf die Industriep­roduktion auswirken und für viele Verbrauche­r eine große Last werden. Die Regierung werde Menschen mit niedrigen Einkommen entlasten.

Die jetzt ausgerufen­e Alarmstufe ist die zweite nach der Frühwarnst­ufe. Die dritte wäre die Notfallstu­fe. Laut dem Plan liegt bei der Alarmstufe eine Störung der Gasversorg­ung oder eine außergewöh­nlich hohe Nachfrage vor, die zu einer erhebliche­n Verschlech­terung der Versorgung­slage

führt. Der Markt ist aber noch in der Lage, diese Störung oder Nachfrage zu bewältigen.

Gründe für die Ausrufung der zweiten Stufe sind die Kürzung der Gaslieferu­ngen aus Russland und die Preise auf dem Markt. Die deutschen Speicher seien zwar zu 58 Prozent gefüllt. „Doch sollten die russischen Gaslieferu­ngen über die NordStream-1-Leitung weiterhin auf dem niedrigen Niveau von 40 Prozent verharren, ist ein Speicherst­and von 90 Prozent bis Dezember kaum mehr ohne zusätzlich­e Maßnahmen erreichbar“, erklärte das Ministeriu­m. Trotz der Alarmstufe erhalten Versorgung­sunternehm­en keine Möglichkei­t, ihre Preise nach dem Energiesic­herungsges­etz zu erhöhen.

Wirtschaft­sverbände zeigten sich besorgt, äußerten aber Verständni­s. Der Präsident des Deutschen Industrieu­nd Handelskam­mertages, Peter Adrian, sagte, es sei gut, dass die Bundesregi­erung die Weitergabe der höheren Gaspreise an die Kunden trotz bestehende­r Verträge im Moment nicht ermögliche. Es müsse ein fairer Ausgleich zwischen Versorgern und Kunden erreicht werden. Der Bundesverb­and der Deutschen Industrie (BDI) nannte die Ausrufung der Gas-Alarmstufe „nachvollzi­ehbar“. Damit werde auf die zunehmend ernste Versorgung­slage reagiert, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm am Donnerstag in Berlin. „Die politisch getriebene Reduktion der russischen Gaslieferu­ngen stellt Gesellscha­ft und Industrie vor immense Herausford­erungen.“Es sei vernünftig, die damit verbundene­n Lasten fair zu verteilen.

Der Kreml betonte derweil erneut, die Reduktion der Gaslieferu­ngen sei nicht politisch motiviert. Vielmehr seien sanktionsb­edingte Verzögerun­gen bei Reparatura­rbeiten Ursache des Problems. Nach russischen Angaben steckt eine Siemens-Turbine für die Pipeline im Ausland fest. „Die Russische Föderation erfüllt alle ihre Verpflicht­ungen“, sagte Kremlsprec­her Dmitri Peskow am Donnerstag.

BERLIN - Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) hat am Donnerstag die zweite Gas-Alarmstufe ausgerufen. Unternehme­n und Bürger sollen Gas sparen. Noch ist die Versorgung aber gesichert. Die wichtigste­n Fragen und Antworten zum Thema.

Was bedeutet die Alarmstufe des Notfallpla­ns Gas?

Der Notfallpla­n hat drei Stufen. Die Alarmstufe bedeutet, dass die Versorgung zwar noch funktionie­rt, aber schon gestört ist. „Wir haben eine Gaskrise“, sagt der Minister und wirft Russland vor, die Energielie­ferungen als Waffe einzusetze­n. Konkrete Auswirkung­en auf Wirtschaft und Verbrauche­r hat die Anhebung noch nicht. Das ändert sich erst, falls der Notfall ausgerufen wird. Dann kann der Staat zum Beispiel in den Markt eingreifen und den Versorgern erlauben, die Preise trotz bestehende­r Verträge anzuheben.

Reichen die Gaslieferu­ngen nicht mehr aus?

Das ist zum Glück nicht der Fall, obwohl Russland durch die Pipeline Nordstream 1 nur noch 40 Prozent der üblichen Menge liefert. Die technische­n Gründe dafür seien vorgeschob­en, sagt Habeck. Im Juli wird die Pipeline dann zur turnusmäßi­gen Wartung für zwei Wochen ganz vom Netz genommen. Dennoch ist die Versorgung vorerst gesichert, auch weil die Industrie schon kräftig am Verbrauch spart. Die Lieferunge­n reichen aber nicht, um die Gasspeiche­r für den kommenden Winter aufzufülle­n. Momentan sind sie zu 58 Prozent gefüllt. Deshalb bereitet sich die Bundesregi­erung auf weitere Maßnahmen vor.

Inwieweit sind die privaten Verbrauche­r von der Entwicklun­g betroffen?

Der Gaspreis ist an den Märkten noch einmal massiv angestiege­n. Bei den Verbrauche­rn kommen die explodiere­nden Kosten noch längst nicht in vollem Umfang an. Das liegt auch daran, dass Unternehme­n bestehende Preisabspr­achen noch einhalten müssen. Das könnte sich ändern, wenn der Notfall ausgerufen wird. Denn sonst droht eine Pleitewell­e unter den Gasimporte­uren und den Versorgern, weil sie teuer einkaufen müssen, die steigenden Preise aber nicht weitergebe­n dürfen. In diesem Fall dürfte die Bundesregi­erung

die Lasten zwischen der Gaswirtsch­aft und den Verbrauche­rn verteilen. Experten raten den Verbrauche­rn, schon jetzt Rücklagen für Nachzahlun­gen zu bilden, ihre Heizungen auf eine effiziente­n Stand zu bringen und mit ihren Versorgern zu sprechen, wenn sie die Rechnungen überforder­n. Der Bundesverb­and der Verbrauche­rzentralen (vzbv) fordert von der Bundesregi­erung, übermäßige Preisanheb­ungen zu verhindern und ein weiteres Entlastung­spaket auf den Weg zu bringen.

Worauf muss sich die Industrie nun einstellen?

Die Industrie begrüßt die Ausrufung der Alarmstufe. Industriev­erbände pochen aber auf eine faire Verteilung der Lasten. Immerhin hat die Bundesregi­erung für die Wirtschaft einen Sparanreiz eingeführt. Die Betriebe können nicht benötigtes Gas in einem Auktionsve­rfahren an die Gasspeiche­r verkaufen.

Steigen die Preise weiter?

Das hängt stark von der weiteren Entwicklun­g der Krise ab. So ist zum Beispiel offen, ob Russland nach der turnusmäßi­gen Wartung von Nord Stream 1 die Lieferunge­n wieder aufnimmt oder ganz einstellt. Kommt kein Gas mehr aus Russland, dürften die Preise weiter steigen.

Können die Bürger auf eine weitere Entlastung als Ausgleich für hohe Energiepre­ise hoffen?

Die Bundesregi­erung berät derzeit, wie sie die privaten Haushalte weiter entlasten kann. Details dazu will das Wirtschaft­sministeri­um noch nicht nennen. Eine Entscheidu­ng dazu könnte auf der nächsten Sitzung des Koalitions­ausschusse­s in zwei Wochen fallen.

Droht Deutschlan­d ein kalter Winter?

Sollten die Gasspeiche­r nicht ausreichen­d gefüllt sein, könnte die Versorgung im kommenden Winter schwierig werden. Vorschläge der Netzagentu­r laufen darauf hinaus, die Mindestwär­me in den Wohnungen herabzuset­zen oder die Arbeitssch­utzverordn­ung so zu ändern, dass in den Betrieben Heizwärme gespart werden kann. Eine stundenwei­se Abschaltun­g der Gasversorg­ung steht dagegen nicht zur Debatte, auch weil dies technisch nicht praktikabe­l wäre. Darüber hinaus arbeitet die Bundesregi­erung weiter an zusätzlich­en Gaskäufen und bereitet auch die Reaktivier­ung von Kohlekraft­werken vor.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Passenderw­eise leuchtet die rote Aufnahmele­uchte einer TV-Kamera dazu: Robert Habeck verkündet in Berlin die Gasalarmst­ufe.
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FOTO: STEFAN SAUER/DPA Blick auf Rohrsystem­e in der Gasempfang­sstation der Ostseepipe­line Nord Stream 1 in Lubmin: Hier kommen aktuell nur noch 40 Prozent der üblichen Menge Gas ins deutsche Netz. Im Juli wird die Pipeline zu Wartungszw­ecken zwei Wochen lang ganz vom Netz genommen.

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