„Atomkraftwerke sind keine Spülmaschinen, die man einfach ein- und ausschaltet“
Grünen-Chef Omid Nouripour über eine längere Nutzung der Kernenergie, Kohlestrom als Alternative und Deutschlands künftiges Verhältnis zu Russland
BERLIN - Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die Alarmstufe für die Gasversorgung ausgerufen und die Bürger auf noch höhere Energiepreise eingeschworen. Schon vor Tagen hat sich die Diskussion, ob Atomkraftwerke nicht länger laufen sollen, neu entfacht. Die Grünen sind dagegen und wollen lieber Kohle stärker nutzen. Warum das so ist und wie unser Verhältnis zu Russland künftig aussehen kann, erklärt Grünen-Chef Omid Nouripour.
Herr Nouripour, warum sollten Atomkraftwerke nicht weiterlaufen?
Christian Lindner hat Recht damit, dass die Dringlichkeiten dieser Zeit keine Denkverbote zulassen. Das zeigt auch Wirtschaftsminister Habeck, indem er nun in einer schweren Abwägung kurzfristig verstärkt auf Kohlekraft setzt. Deshalb haben Wirtschaftsund Umweltministerium direkt nach dem Überfall auf die Ukraine überprüfen lassen, ob und wie es eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke geben könnte. Das Ergebnis lautet, dass das weder wirtschaftlich noch technisch sinnvoll ist. Atomkraftwerke machen aktuell nicht einmal mehr fünf Prozent an der
Stromversorgung aus. Die Versorgungslücke klafft aber bei der Wärme. Natürlich ist jede Debatte erlaubt. Aber am Ende ist Atomkraft keine Lösung für das bestehende Problem.
Ist Kohle denn besser für die Umwelt?
Sicher nicht besser für die Umwelt, aber im Gegensatz zu Atomkraft machbar. Ein Vorziehen der noch vereinbarten Verstromung von Kohle ist im Gegensatz zur Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken schnell realisierbar. Hier verweise ich auf die Betreiber, die sagen, dass man Atomkraftwerke nicht mal eben hochfahren kann. Und diejenigen Kraftwerke, die noch laufen, brauchen neue Brennstäbe und weitere Sicherheitsüberprüfungen. Beides würde sehr lange dauern. AKWs sind keine Spülmaschinen, die man einfach aus- und einschaltet.
Damit wird aber wieder mehr CO2 produziert. Wie erklären Sie das Ihren Wählern?
Dass wir Kohle zur Stromerzeugung nutzen, ist ein Notausgang aus dem Schlamassel, den uns die Vorgängerregierungen eingebrockt haben. Wir müssen kurzfristig die Energieversorgung gewährleisten. Aber wir werden den Weg zur Erreichung der Klimaziele nicht verlassen, und deshalb halten wir auch am Kohleausstieg 2030 fest.
Sind die erneuerbaren Energien bis 2030 ausreichend ausgebaut?
Es gibt eine große gesellschaftliche Akzeptanz dafür, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren jetzt dringend beschleunigen müssen. Viele Landräte melden sich bei uns und sagen, dass sie wegen des Ukraine-Krieges verstehen, weshalb es die schnelle Energiewende braucht. Trotzdem ist es alles andere als einfach, weil es an
Rohstoffen, Materialien und Personal mangelt. Der Ausbau ist deshalb eine nationale Kraftanstrengung. Aber die Notwendigkeit ist klimapolitisch wie sicherheitstechnisch offensichtlich.
Was sollte der Staat jetzt tun, um Bürger und Unternehmen zu entlasten?
Wir haben als Ampel-Regierung bereits zwei große Entlastungspakete auf den Weg gebracht. Aber Fakt ist leider auch: Die gestiegenen Gas- und Strompreise werden im Winter noch stärker bei den Menschen ankommen. Wir haben das im Blick, dafür wurde nun ja auch die konzertierte Aktion einberufen. Je nachdem, wie die bereits beschlossenen Maßnahmen und die konzertierte Aktion wirken, werden wir uns konkrete Gedanken über weitere Entlastungen machen.
Deutschland unterstützt die Ukraine mit Waffenlieferungen. Nun liegt die Liste der Lieferungen vor. Ist der Inhalt ein Grund, stolz zu sein?
Man kann vor allem auf die große gesellschaftliche Solidarität stolz sein bei all den Menschen, die in Deutschland ankommen und Schutz brauchen. Und wir tun, was wir können, um der Ukraine beizustehen. Aber es ist frustrierend, dass manches nicht so schnell geht. Es sind in der Vergangenheit viele Hausaufgaben nicht gemacht worden, das holen wir jetzt nach.
Es gibt Zweifel am Bekenntnis der Ukraine zur Rechtsstaatlichkeit. Ist es da eine weise Idee, dem Land jetzt schon eine EU-Perspektive zu versprechen?
Es darf keine Rabatte beim Thema Rechtsstaatlichkeit geben. Trotzdem ist die Vergabe des Kandidatenstatus von größter Bedeutung. Denn der Wille der ukrainischen Bevölkerung, näher an Europa heranzurücken, war vom ersten Tag an Teil der Auseinandersetzung mit dem Kreml. Wir dürfen nicht mit Waffengewalt die Bündnisfreiheit eines souveränen Landes kaputt schießen lassen. Dass es danach noch ein weiter Weg in die EU ist, wissen die Leute in der Ukraine. Wichtig ist außerdem, dass die Gespräche mit den Staaten des westlichen Balkans vorankommen, insbesondere mit Nordmazedonien und Albanien.
Sollten wir jetzt schon über unser Verhältnis zu Russland nach Ende des Krieges nachdenken?
Das werden wir selbstverständlich müssen, allerdings in Szenarien. Denn niemand weiß, wann dieser Krieg endet. Absehbar ist, dass es mit diesem Kreml nicht möglich ist, enge wirtschaftliche Beziehungen zu führen. Die Aggression Putins bereitet den Weg für einen neuen Eisernen Vorhang, der wahrscheinlich so dicht sein wird wie der alte Vorhang, bevor Chruschtschow zur Pepsi-Flasche gegriffen hat. Das wollten wir nicht, aber wir werden alles Notwendige tun müssen, um die Aggression Russlands zu stoppen. Denn diese beschränkt sich nicht auf die Ukraine, Moldau oder Syrien, sondern bedroht den Frieden in Europa wie die regelbasierte Weltordnung.