„Ich bin der Vater von Viagra“
Nobelpreisträger Louis J. Ignarro über seine Forschung, die ihm den Medizin-Nobelpreis einbrachte, und seinen Spitznamen
LINDAU - Seine Forschung ermöglichte die Entwicklung von Voltaren und Viagra und brachte ihm den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ein. Louis J. Ignarro bekam als einer von drei Wissenschaftlern 1998 den Preis für die Erforschung von Stickstoffmonoxid überreicht. Am Montag hält er bei der jährlichen Lindauer Nobelpreisträgertagung, die in diesem Jahr vom 26. Juni bis 1. Juli stattfindet, einen Vortrag zu den Wirkungen des Gases auf den Körper. Mit Verena Pauer hat der 81-jährige Amerikaner über seine Entdeckungen, die Auswirkungen auf die Medizin und sein Leben nach dem Nobelpreis gesprochen.
Herr Ignarro, es ist jetzt 24 Jahre her, dass Sie den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin bekommen haben. Wie sehr hat der Preis Ihr Leben verändert?
Das zu erzählen, bräuchte jetzt mindestens zehn Stunden. Kurz gesagt: Der Gewinn hat mein Leben komplett verändert – in jeder Hinsicht zum Besten. Der Preis hat mir viele neue Möglichkeiten eröffnet, die ich davor nicht hatte. So habe ich mehr Gelder für meine Forschung bekommen, bevor ich mich dann irgendwann zurückgezogen habe. Er hat mir aber auch ermöglicht, um die ganze Welt zu reisen, um überall über meine Arbeit zu sprechen. Ich habe viele Menschen und Forschungsstätten kennengelernt, bin Kooperationen mit Laboren in anderen Ländern eingegangen und habe neue Dinge erforscht und veröffentlicht. Der Preis hat zugegebenermaßen auch dazu geführt, dass meine Frau und ich uns ein besseres Leben leisten können. Wir haben ein schönes Haus in der Gegend von Los Angeles.
Und das war alles durch den Nobelpreis möglich?
Auf jeden Fall. Ohne den Nobelpreis würde ich noch immer in meinem Labor sitzen und in einem kleinen Haus wohnen. Professoren verdienen nicht so viel Geld.
Den Nobelpreis haben Sie „für die Entdeckungen in Bezug auf Stickstoffmonoxid als ein Signalmolekül im Herz-Kreislauf-System“bekommen. So hat es das Nobelkomitee begründet. Was kann sich jemand, der nicht Pharmazie oder Medizin studiert hat, darunter vorstellen?
Stickstoffmonoxid ist ein gasförmiges Molekül. Es ist ein Gas, wie Sauerstoff oder Kohlendioxid und in der Erdatmosphäre vorhanden. Man ging immer davon aus, dass es ein Schadstoff sei – bis mein Labor herausgefunden hat, dass unser Körper Stickstoffmonoxid, chemisch auch NO genannt, produziert und wir dadurch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt sind. Es ist wie folgt: Unsere Arterien produzieren Stickstoffmonoxid, um unseren Blutdruck zu regulieren. Wenn wir also die richtige Menge davon produzieren, bekommen wir keinen Bluthochdruck und verhindern so Schlaganfälle und Herzinfarkte. Das war die ursprüngliche Entdeckung, die wir gemacht haben, und sie war anscheinend wichtig genug, um einen Nobelpreis zu bekommen.
Welche Schlüsse können Menschen aus Ihrer Forschung ziehen?
Unsere Forschung, aber besonders die Forschungen von vielen anderen, die auf meinen Forschungsergebnissen aufbauen, haben gezeigt: Solange unser Körper eine normale Menge von Stickstoffmonoxid produziert, können wir gesund bleiben und lange leben. Wenn wir gesund leben und essen und regelmäßig Sport treiben, können wir einen Großteil der Herzinfarkte, Schlaganfälle, Bluthochdruck und Herzversagen verhindern. Ich habe die vergangenen 20 Jahre damit verbracht, das zu erklären und ich habe versucht, Menschen dazu zu bringen, ihren Lebensstil gesünder zu gestalten. Aus einem ganz einfachen Grund: Viele Menschen denken, dass sie nichts gegen einen Herzinfarkt oder Schlaganfall tun können. Aber das ist absolut falsch. Weniger als zehn Prozent dieser Erkrankungen sind genetisch bedingt und mehr als 90 Prozent werden durch einen schlechten Lebenswandel ausgelöst. Wenn also die Menschen ihren Lebensstil ändern würden, könnten wir 90 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern.
Es geht also auch darum, gesund zu essen. Gibt es Nahrungsmittel, die die Produktion und Wirkung von Stickstoffmonoxid fördern?
Ganz oben auf der Liste steht Fisch, und zwar jede Art von Fisch. Andererseits nimmt die Produktion von NO ab, wenn man zu viel Fleisch, zum Beispiel Schwein oder Rind, isst. Neben Fisch regen auch frisches Obst und Gemüse die Produktion und Wirkung von Stickstoffmonoxid an. In den USA sagen uns die Ärzte und die Regierung, dass wir jeden Tag sechs oder sieben Portionen frisches Obst oder Gemüse essen sollen. Und das stimmt. Die besten Obst- und Gemüsesorten, um die Produktion von Stickstoffmonoxid zu fördern, enthalten die sogenannten Antioxidantien. Da gilt eine einfache Regel: je intensiver die Farbe, desto mehr Antioxidantien und desto gesünder. Bei Gemüse sind das zum Beispiel Rote Bete, Spinat, Grünkohl, Rukola oder Rosenkohl. Kartoffeln haben keine kräftige Farbe und nicht sehr viele Antioxidantien. Das beste Obst für einen Stickstoffmonoxid-Boost ist Granatapfel – aber auch Blaubeeren, Brombeeren oder Himbeeren, um nur ein paar zu nennen. Ein Apfel oder eine Banane sind zwar gesund, aber sie haben nicht viele Antioxidantien, man macht also nichts für sein Stickstoffmonoxid.
Also ist an dem Satz „An apple a day keeps the doctor away” nicht so viel dran?
Der Satz ist hundert Jahre vor der Entdeckung von Stickstoffmonoxid entstanden. Popeye hat ganz viel Spinat gegessen, weil man dachte, dass Spinat viel Eisen enthält. Tatsächlich enthält Spinat nicht viel Eisen, aber er fördert die Produktion von Stickstoffmonoxid.
Ihre Forschung hatte Auswirkungen auf die Entwicklung vieler Medikamente. Welches hat Ihrer Meinung nach die meisten Auswirkungen auf die Menschheit?
Das kommt darauf an, wie man es betrachtet. Zuerst einmal: Meine Entdeckungen haben andere dazu gebracht, weiter zu forschen. Auf meinen Forschungsergebnissen aufbauend wurden dann Medikamente gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickelt. Aber wenn wir auf die beiden Medikamente schauen, die aufgrund meiner Entdeckungen entwickelt wurden, gibt es Diclofenac, das als Voltaren verkauft wird – ein entzündungshemmendes Medikament. Das aufregendste Medikament ist aber Viagra. Ich bin sehr stolz darauf, dass aufgrund meiner Forschung Viagra entwickelt wurde. Das Medikament behandelt erektile Dysfunktion, die Hunderte Millionen Männer auf der ganzen Welt betrifft. Es ist keine lebensbedrohliche Krankheit, aber es ist offensichtlich sehr schwierig, damit zu leben. Viagra hilft vielen von ihnen und ich fühle mich sehr gut mit der Entdeckung.
Sie werden oft als „Vater von Viagra“bezeichnet. Wie viel Wahres ist dran an dem Titel?
Das ist absolut wahr. Vor meiner Entdeckung gab es kein Medikament, das man einnehmen konnte und das erektile Dysfunktion behandelt. Man kannte die Ursache dieser Probleme nicht, das haben erst wir herausgefunden. Es gibt bestimmte Nerven, die zum erektilen Gewebe laufen und die Signalmoleküle aussenden. Das ist so bei allen Nerven, aber die Signalmoleküle in diesem Bereich waren unbekannt. Wir haben herausgefunden, dass dieses Molekül Stickstoffmonoxid ist. NO ist das Molekül, das eine Erektion auslöst. Patienten mit einer erektilen Dysfunktion produzieren sehr wenig Stickstoffmonoxid. Das Pharmaunternehmen Pfizer hat meine Arbeit gelesen und daraufhin ein Medikament entwickelt, das Stickstoffmonoxid in diesem Bereich des Körpers erhöht – Viagra. Die Leute von Pfizer haben mich daraufhin „Vater von Viagra“genannt, denn ohne meine Arbeit hätten sie niemals dieses Medikament entwickeln können. Ich habe es nicht erfunden, ich habe lediglich eine Entdeckung gemacht, die ein Pharmaunternehmen dazu gebracht hat, Viagra zu entwickeln. Deswegen der Name „Vater von Viagra“.
Es wird sich oft über Viagra lustig gemacht. Aber das Medikament hilft Menschen.
Ja, definitiv. Viagra hilft nicht nur Männern bei erektiler Dysfunktion. Es erhöht auch sexuelle oder sensorische Erregung – aber nicht nur bei Männern. Viele Menschen wissen nicht, dass Viagra auch einen großen Effekt bei Frauen haben kann, denn auch Frauen haben erektiles Gewebe. Es sieht ein bisschen anders aus, aber sie haben es, und es muss sexuell stimuliert werden. Viagra kann Frauen dort helfen, nur will das Unternehmen damit nicht werben. Aber Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das Medikament sowohl bei Männern als auch bei Frauen wirkt. Neue Forschungen haben auch gezeigt, dass Viagra in Verbindung mit anderen Medikamenten hilft, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch Lungen-Krankheiten zu behandeln. Viagra funktioniert, weil es die Produktion von Stickstoffmonoxid fördert, deshalb kann Viagra auch bei anderen Erkrankungen helfen.
Stickstoffmonoxid soll auch bei der Behandlung von Covid-19 helfen.
Stickstoffmonoxid ist ein Gas, man kann es inhalieren. Das wurde zum ersten Mal vor 20 Jahren gemacht, um Neugeborene zu behandeln, die an Lungenhochdruck litten – eigentlich eine tödliche Krankheit für die Babys. Das Inhalieren von NO entspannte Atemwege und Blutgefäße, sodass mehr Luft in die Lunge strömen und mehr Blut in die Lunge fließen und Sauerstoff aufnehmen konnte. Nach ein bis zwei Tagen Behandlung konnten die Säuglinge aus dem Krankenhaus entlassen werden. Vor zwei Jahren wurde dann herausgefunden, dass Stickstoffmonoxid bei Covid-19 helfen kann. Es gibt schon ein paar Studien, momentan laufen vier oder fünf große Studien zu dem Thema gleichzeitig. Das Gas hilft, weil es unter anderem Viren abtötet. Jedes Jahr gibt es neue Erkenntnisse zu Stickstoffmonoxid, deswegen bin ich auch jedes Mal aufs Neue fasziniert davon.
24 Jahre ist es jetzt her, dass Sie den Preis für Physiologie oder Medizin gewonnen haben. Wenn Sie ihn heute an ein Forschungsfeld verleihen könnten, welches wäre das?
Die Leute, die den Nobelpreis bisher bekommen haben, haben den Preis alle verdient. Es gab in den vergangenen Jahren aber auch sehr viel gute Arbeit, die den Preis bisher noch nicht bekommen hat. Natürlich weiß ich nicht, wer den Preis bekommen wird. Aber ich glaube, dass manche Fortschritte bei der Behandlung von Krebs ihn verdient hätten. Und es ist gute Arbeit geleistet worden, um zu verstehen, was Demenz und Alzheimer auslöst. Wenn Medikamente gegen Alzheimer entwickelt werden, wird es meiner Meinung nach in dem Bereich einen Nobelpreis geben.