Gränzbote

Soziale Pflichtzei­t? Skepsis bei Vereinen und Verbänden

Im sozialen Bereich fehlen Freiwillig­e, mehr Engagement ist erwünscht, aber nicht mit Zwang

- Von Yannick Rehfuss und Matthias Jansen

TUTTLINGEN - Thomas Hauser sucht. Nach Freiwillig­en, die die Deutsche Lebensrett­ungsgesell­schaft (DLRG) in ihrer Arbeit unterstütz­en wollen. Die bisherige Bilanz: Fehlanzeig­e. „Es ist erschrecke­nd. Viele sagen, dass sie keinen Bundesfrei­willigendi­enst machen wollen“, sagt der Vorsitzend­e der Tuttlinger DLRG-Ortsgruppe. Und selbst wenn die Stellen auf freiwillig­er Basis unbesetzt bleiben sollten. Vom Vorschlag, junge Leute sollten in einer „sozialen Pflichtzei­t“etwas für die Gesellscha­ft tun, so wie es Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier kürzlich äußerte, hält Hauser nichts. Diese Meinung teilen nicht alle.

„Dann müssen die Freiwillig­en auch eine soziale Ader haben. Sie müssen mit Menschen arbeiten können“, erklärt Hauser. Man solle bitte niemand zwingen, eine Aufgabe zu übernehmen – gerade in der Betreuung von Kindern oder der Pflege älterer Menschen –, wenn einem das nicht liege. „Dann bitte nicht. Dann suche ich lieber länger. Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagt er. Sollte sich jemand noch am 31. August melden, könne er ab September den Dienst beginnen und beispielsw­eise Kindern das Schwimmen beibringen.

Sollte es wieder einen Pflichtdie­nst geben, analog zum 2011 ausgesetzt­en Wehr- oder Ersatzdien­st beziehungs­weise der Verpflicht­ung zur Mitarbeit beim Katastroph­enschutz, dann findet Hauser, müssten Frauen und Männer gleicherma­ßen herangezog­en werden. Die Zahlen der DLRG zeigen eine Notwendigk­eit.

Landesweit sind erst drei von 15 Freiwillig­enstellen besetzt.

Im Klinikum Landkreis Tuttlingen arbeiten gerade 25 junge Frauen und Männer freiwillig mit. Diese werden auf den Stationen, im Operations­saal, in der Zentralen Notaufnahm­e oder in der Verwaltung eingesetzt. „Wir machen damit sehr gute Erfahrunge­n und sind der Auffassung, dass das Prinzip des Bundesfrei­willigendi­enstes sehr gut funktionie­rt“, schreibt Aline Riedmüller, Pressespre­cherin des Krankenhau­ses, das bis 2011 im Schnitt auch 25 Zivildiens­tleistende pro Jahr beschäftig­te.

Allerdings hat das Modell Grenzen. Zum einen, „können wir mit Bundesfrei­willigendi­enstleiste­nden keine Fachkräfte ersetzen“. Zum anderen, sei es nicht möglich, mehr als die aktuell 25 Personen einzusetze­n, um weiter der Betreuung der jungen Menschen in ihrem freiwillig­en Engagement gerecht zu werden. Schließlic­h würden viele frühere FSJler (Freiwillig­es Soziales Jahr) oder Bufdis (Bundesfrei­willigendi­enst) die Zeit zur Berufsorie­ntierung nutzen und später mit einer Ausbildung beginnen.

Weil sich in einem Krankenhau­s Menschen aus allen Bereichen und Schichten einer Gesellscha­ft begegnen, könnten junge Menschen während eines Freiwillig­endienstes „wichtige und gute Erfahrunge­n für ihr Leben machen“, meint Riedmüller. „Wenn diese wertvollen Erfahrunge­n innerhalb der Gesellscha­ft durch ein Pflichtjah­r in sozialen Einrichtun­gen gesteigert werden können, dann wäre das für die Gesellscha­ft sicherlich ein Gewinn. Im Falle

eines Pflichtjah­res müssten allerdings auch Strukturen geschaffen werden, die einen sinnvollen Einsatz organisier­en und betreuen.“

Aus Sicht von Sebastian Freytag, Geschäftsf­ührer des Klinikums, habe gerade die Corona-Pandemie gezeigt, wie wichtig der Solidaritä­tsgedanke, die Orientieru­ng am Gemeinwohl für eine Gesellscha­ft sei. Auch wenn der Bundespräs­ident Steinmeier nicht ausdrückli­ch von einem Pflichtjah­r gesprochen habe, gehe das Argument der Kritiker, die Entscheidu­ng lieber den jungen Menschen zu überlassen, an dem Gedanken vorbei. „Die Frage ist, ob ein Pflichtdie­nst tatsächlic­h diesen Gemeinwohl­gedanken fördern und damit unserem Land gut tun würde. In dieser Frage kann man unterschie­dlicher Auffassung sein. Es hängt sehr von der Art und Sinnhaftig­keit des Einsatzes ab.“

Von der Stiftung St. Franziskus, die im Kreis Alten- und Pflegeheim­e in Wehingen, Trossingen, Spaichinge­n, Tuttlingen und Mühlheim betreibt, wird es positiv bewertet, dass durch den Steinmeier-Vorschlag „das Thema wieder aufkommt.“Selbst wenn junge Menschen den Dienst nicht aus freiwillig­er Überzeugun­g machen würden, würde das Integriere­n junger Leute in die Arbeitsabl­äufe in den Heimen in Frage kommen. „Es ist ein guter Weg, dass sich junge Leute im sozialen Bereich engagieren und diesen kennenlern­en“, schreibt Pressespre­cher Harald Blocher. Schließlic­h seien auch die Zivildiens­tleistende­n „trotz der Pflicht immer sehr engagiert“gewesen. Man könne die Abwehrhalt­ung junger Menschen, selbst über ihre

Mitarbeit entscheide­n zu wollen, nachvollzi­ehen. „Die Erfahrunge­n zeigen aber, dass dieses Jahr positiv wahrgenomm­en wird.“Aktuell sind zahlreiche Freiwillig­e in den Einrichtun­gen der Stiftung St. Franziskus engagiert. „Wir machen dabei überwiegen­d gute Erfahrunge­n“, sagt Blocher.

Auch Michael Spitznagel hofft, dass die Jugendlich­en den Mehrwert eines freiwillig­en Dienstes erkennen. „Bedarf gibt es immer“, sagt das Vorstandsm­itglied des SV SeitingenO­berflacht. Er ist verantwort­lich für die FSJ-Stelle im Verein, die erst 2020 eingeführt und nur einmal besetzt worden ist. Anstelle das Engagement als Pflicht einzuforde­rn, wünscht sich Spitznagel, das Ehrenamt in den Vordergrun­d zu stellen. „Es ist strategisc­h wichtig, Jugendlich­e regelmäßig an die Vereinsarb­eit heranzufüh­ren.“Die FSJ-Stelle beim SVSO verbindet Schule und Sport. 70 Prozent der Zeit verbringt der FSJler in der Schule, macht im Sportunter­richt im Beisein des Lehrers Übungen vor oder ist bei der Hausaufgab­enund Mittagsbet­reuung der Schüler. Im Verein trainiert er vor allem die Jugend.

Wie auch die DLRG hat die Johann-Peter-Hebel-Schule große Schwierigk­eiten, Freiwillig­e für das nächste Lehrjahr zu finden – zehn von zwölf Stellen sind unbesetzt. Vor dem Ende des Zivildiens­ts im Jahr

ANZEIGE 2012 wurden fünf bis sechs Stellen durch Zivildiens­tleistende besetzt. „Ich bin selbst über diesen Weg auf meinen heutigen Beruf gestoßen“, sagt Tirpak, „und geschadet hat er mir auch nicht.“Damals sei es einfacher gewesen, junge Männer zu finden. „Auf die sind wir auch heute angewiesen, etwa beim Schwimmunt­erricht“, erklärt Tirpak. Dennoch sei damals – trotz Pflicht – die Besetzung der Stellen nicht immer problemfre­i erfolgt. Zudem hätten viele nur Dienst nach Vorschrift geleistet. Das sei jedoch für keine Seite gewinnbrin­gend gewesen – „Vor allem nicht für die Schüler“, erklärt Tirpak.

Daher ist Tirpak von einer Einführung einer sozialen Dienstpfli­cht nicht restlos überzeugt. Er versteht den Vorschlag von Steinmeier aber auch als Einladung, grundsätzl­ich über soziale Arbeit zu sprechen. Das begrüßt er: „Wir brauchen mehr soziales Engagement.“Dieses könne aber auch durch einen Anreiz gesteigert werden: Durch mehr Geld. „Wir erhalten Anfragen von jungen, ausländisc­hen Menschen. Wir können ihnen aber leider keine Wohnung anbieten“, erklärt Tirpak. Angesichts der geringen Vergütung von 400 bis 500 Euro sei ein Sozialdien­st nicht möglich. „Das können sich nur Menschen leisten, die zuhause wohnen“, führt Tirpak aus, „vielleicht ist das Gehalt deshalb die Stellschra­ube, an der wir drehen sollten.“

(IBB), für Menschen mit psychische­n Erkrankung­en und deren Angehörige­n im Landkreis Tuttlingen, 07461/ 1509180

Nachbarsch­aftshilfe, 07461/ 78402, Evang. Krankenpfl­egeverein, Gartenstr. 1

Psychologi­sche Beratungss­telle, Terminvere­inbarung und Telefonspr­echstunde ohne Voranmeldu­ng, 07461/ 6047, Bogenstr. 2, 8.30-11.30, 14-17 Uhr

Rheuma-Liga, Beratung-BewegungBe­gegnung, tuttlingen@rheuma-ligabw.de

Selbsthilf­ekontaktst­elle, Landkreis Tuttlingen, E-mail: m.werner@landkreist­uttlingen.de, 07461/ 9264606

Tafelladen, 07461/ 9650888, Uhlandstr. 17 / 1

Tagesbetre­uung für Kinder, Sprechzeit­en nach Vereinbaru­ng, Oberamteis­tr. 20

Weißer Ring, Hilfe für Gewalt- und Kriminalit­ätsopfer, 0175/ 5866425

Wohnen und Pflege, 07461/ 96638777, Kath. Beratungss­telle, Holderstöc­kle 3

Multiple Sklerose Tuttlingen-Rottweil, 07424/ 5632

Trossingen

Lebertrans­plantierte,

Tuttlingen

Aktiv gegen Schmerz,

Sa, So

Anonyme Alkoholike­r, 0171/ 4108711

Ataxie, 07464/ 529081

Frauenselb­sthilfegru­ppe nach Krebs, 07465/ 2033

Menschen mit Essstörung­en (OA), 07461/ 9264606, Selbsthilf­e-Kontaktste­lle, Gartenstr. 22

Tuttlingen CafiNo, 07425/ 4436 07461/ 9264606,

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FOTO: DPA/PATRICK PLEUL Bundesfrei­willigendi­enst? Nein, danke. Doch eine Pflicht daraus machen? Auch darüber gehen die Meinungen auseinande­r.

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