Rothenburg abseits der Klischees
Städtetrip in eine altdeutsche Stadt, die anders ist
ROTHENBURG OB DER TAUBER (dpa) - Das weltbekannte Rothenburg hatte ich mir als hübsch, aber überlaufen vorgestellt. Und daher stets gemieden. Doch wegen der Pandemie bleiben die internationalen Gäste aus. Gerade Amerikaner und Japaner, die die fränkische Kleinstadt mit den steilen Giebeln so bewundern, können nicht reisen. Nun endlich ist meine Zeit gekommen. Ich mache mich auf den Weg.
Rothenburg zählte 2019 noch 1,7 Millionen Besucher. Nun streife ich praktisch ganz allein durch manche verwinkelte Gasse. Das Wahrzeichen der Stadt – das Plönlein, ein schiefes Fachwerkhaus mit Brunnen davor – fotografiere ich als einzige. An diesem Postkartenmotiv standen die Besucher in touristischen Hochzeiten Schlange.
Besonders nachts wirkt die Altstadt wie aus einem Märchen. Die mittelalterliche Stadtstruktur mit dem geräumigen Marktplatz wurde authentisch erhalten. Weder üble Verschlimmbesserungen aus der Nachkriegszeit noch Werbetafeln verschandeln das historische Stadtbild.
Der Nachtwächter dreht nächtlich zweimal seine Runde. Bestückt mit Horn, Hellebarde und Laterne. Hans Georg Baumgartner mimt seit 30 Jahren den Rothenburger Nachtwächter. Das historische Vorbild war in Rothenburg bis 1920 im Einsatz.
Im Mittelalterlichen Kriminalmuseum sind furchterregende Folterinstrumente wie Streckbank, Daumenschrauben und Stachelstuhl zu sehen. „Doch wir sind keine Folterausstellung“, betont der Direktor Markus Hirte. „Wir veranschaulichen 1000 Jahre Rechtsgeschichte.“Das 101 Jahre alte Rechtskundemuseum gibt sich überraschend zeitgemäß. Die Präsenz auf dem sozialen Netzwerk TikTok zum Beispiel lockt viele junge Besucher in die 600 Jahre alten Gemäuer.
Fränkischer Wein schmeckt erst beim dritten Schoppen? „Das gilt längst nicht mehr“, sagt Klaus Wörle, der sich auf Weine aus Franken spezialisiert hat. Der 68-jährige Wirt war es gewohnt, dass seine berühmte Weinstube bis in die Nacht gerammelt voll mit Gästen war. Nun freut er sich auf die erste Kundschaft, der er Silvaner, Riesling oder Tauberschwarz von fränkischen Prädikatsweingütern servieren darf.
Und dann das Essen. Speisekarten in Franken sind oft nichts für Vegetarier und Veganer. Schäufele und Bratwürste dominieren das Feld der fränkischen Küche auch in Rothenburg. Anders bei Simon Kistenfeger. Der international vernetzte Barkeeper kehrte nach Stationen in Mexiko und Australien zurück in seine Heimatstadt und eröffnete das erste vegane Lokal Rothenburgs, Mucho Amor. Die Bar mit hippen Cocktailkreationen hätte man eher in Berlin vermutet. „Rothenburg ist für mich die kleinste Weltstadt der Welt“, sagt Simon Kistenfeger.
Ein Spaziergang auf der 3,5 Kilometer langen Stadtmauer ermöglicht aus luftiger Höhe nicht nur einen spektakulären Blick auf die Türme der Altstadt, sondern auch in geheime Gartenrefugien. Es waren Künstler, die Rothenburg im 19. Jahrhundert wiederentdeckten. Carl Spitzweg kam, später Wassily Kandinsky.
Im malerisch an der Tauber gelegenen Wildbad Rothenburg wird mit so mancher Klischeevorstellung gebrochen. Im Garten der Tagungsstätte ist über die Jahre ein Skulpturenpark mit zeitgenössischer Kunst entstanden. Da wurde mitten im Dickicht eine Figurengruppe moderner Nomaden platziert, wie Spuren des Weltgeschehens. In der historischen Puppenstube Rothenburg ist die Zeit eben doch nicht stehen geblieben.