Jetzt die vierte Impfung? Das sagt der Klinikarzt
Dr. Jürgen Schmidt ist Chefarzt im Tuttlinger Klinikum - Er sagt: „Die Sommerwelle läuft gerade an.“
TUTTLINGEN - Jetzt ein viertes Mal impfen? Oder doch noch warten? Oder sich den Piks sparen? Viele Menschen sind verunsichert, was sie jetzt tun sollen. Die Corona-Zahlen sind schon wieder am steigen – wie wird das erst im Herbst und Winter sein? Redakteurin Ingeborg Wagner unterhielt sich mit Dr. Jürgen Schmidt, Chefarzt des Tuttlinger Kreiskrankenhauses und Leiter der Corona-Station im Klinikum.
Herr Schmidt - Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat vergangene Woche dazu aufgerufen, sich ein viertes Mal impfen zu lassen, quasi den zweiten Booster für alle. Die Pharmaunternehmen arbeiten zudem an einem Impfstoff, der an Omikron angepasst sein soll. Die Frage stellt sich: Was tun?
Das ist eine individuelle Abwägung. Ich bin bereits viermal geimpft. Im Krankenhaus habe ich viel mit Menschen zu tun und mich treibt die Sorge um, durch eine Corona-Erkrankung länger auszufallen. Man sollte sich überlegen, welches Risiko man eingeht. Aus meiner Sicht gibt es nur wenige Argumente gegen die Impfung. Die meisten haben danach einen schmerzenden Arm, rund die Hälfte der Geimpften sind nach einer Corona-Impfung auch mal ein bis zwei Tage krank. Doch ernste Komplikationen wie zum Beispiel Herzbeutelentzündungen sind mit 1:10.000 absolute Raritäten. Bei einer Covid-Erkrankung ist das Risiko für diese Komplikationen deutlich höher.
Und die breite Bevölkerungsmasse zwischen 20 und 60 Jahren, leidlich gesund? Soll die sich jetzt auch den vierten Piks holen?
Wer einen möglichst unbeschwerten Sommer haben will, ja. Wer unter 40 ist und keine Begleiterkrankung hat, der kann mit dem zweiten Booster bis zum Herbst warten. Allen anderen rate ich jetzt zur Impfung. Rund die Hälfte der Deutschen hat Übergewicht, das ist bei Corona ein Risikofaktor. Aber auch bei der Dauereinnahme von Medikamenten, bei chronischen Lungenerkrankungen und bei Rauchern ist das Risiko eines schweren Covid-Verlaufs gegeben. Besondere Risiken haben Organtransplantierte, Rheuma- und HIV-Patienten. Ihnen rate ich dringend zur vierten Impfung, wenn der letzte Piks länger als drei Monate zurückliegt.
Wie ist die Situation derzeit im Tuttlinger Krankenhaus?
Die Sommerwelle, die sechste Welle, läuft gerade an. Aktuell haben wir zehn Patienten auf der Covid-Station. Im Dezember 2021 waren es zeitweise über 40, aber wir hatten im Minimum lediglich drei Patienten mit Covid-19. Wir merken, dass es wieder anzieht, wobei man sagen muss, dass die meisten Patienten mit anderen Krankheiten zu uns kommen und sich dann herausstellt, dass sie auch Covid haben.
Genau diese milden Verläufe werden ja von vielen als Argument genannt, sich eben nicht impfen oder erneut boostern zu lassen. Was sagen Sie dazu?
Wir wissen, dass die Sterblichkeit bei Omikron 70 bis 90 Prozent geringer ist als bei Delta. Wir haben derzeit recht hohe Fallzahlen, viel höher als in den Sommern 2020 und 2021, aber relativ wenig Todesfälle. Das liegt sicherlich auch daran, dass immer mehr Menschen Teil-immunisiert sind, sei es durch Krankheit oder eben durch Impfung.
Wirkt der Impfstoff bei der aktuellen Variante überhaupt noch?
Wenn man sich die nüchternen Zahlen anschaut, wissen wir, dass das Ansteckungsrisiko bei Omikron 20 bis 30 Prozent höher ist als bei Delta. Selbst wenn man dreifach geimpft ist, besteht noch ein relevantes Ansteckungsrisiko. Das zeigt, dass der Schutz vor einer Infektion tatsächlich schlechter ist als bei der DeltaVariante. Und nun zur vierten Impfung: Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung ist durch den zweiten Booster um 50 Prozent reduziert und lediglich für drei bis sechs Wochen im Vergleich zu Dreifachimpfung. Aber, und nur das ist wichtig: Das Risiko schwerer Komplikationen wie Krankenhausaufenthalt, Beatmungsnotwendigkeit oder Tod bleibt über Monate hinweg um 75 Prozent reduziert gegenüber Menschen mit Dreifachimpfung.
Wäre es nicht besser, auf den auf Omikron angepassten Impfstoff zu warten, wenn die Ansteckungsgefahr trotz Impfung so hoch ist?
Das Virus entwickelt sich ständig weiter, deshalb ist fraglich, inwieweit ein angepasster Impfstoff, der auf dem Stand des Virus vom Jahresanfang basiert, bei einer Infektion weiteren Schutz bietet. Das zelluläre Training der T-Zellen wird auch durch den aktuellen Impfstoff verbessert, das wissen wir mittlerweile.
Nun regen sich ja viele Menschen über die Häufigkeit der CoronaImpfung auf und führen an, dass anfangs nur von einem Piks die Rede war. Was sagen Sie denen?
Fairerweise muss man anerkennen, dass das ein neues Virus und eine neue Situation ist. Viele Halbkenntnisse wurden in Medien, in sozialen Medien und auch in der Wissenschaft breitgetreten, ohne fundierte Grundlagen. Mittlerweile hat man dazugelernt. Die Covid-Impfung bietet nicht wie bei Masern einen Schutz, der ein Leben lang vorhält, wenn man zweimal geimpft ist. Ich denke, es wird in Zukunft so sein, dass wir uns jeden Herbst gegen Corona impfen lassen, so wie gegen Grippe.
Wie sind Sie im Krankenhaus auf den Herbst vorbereitet?
Wir sind in der Lage, ohne große Probleme in der Dimension bis zu 50 Patienten mit Covid zu versorgen und wir haben nach wie vor Intensivund Intensivreservekapazitäten. Das Hauptproblem ist, dass bei hohen Infektionszahlen Personal ausfällt. Auch bei Omikron fallen die Mitarbeiter bei einer Infektion fünf Tage oder länger aus. Doch wir sind auf alles vorbereitet und haben Medikamente zur passenden Immunisierung vorrätig.
Wie schauen Sie persönlich das, was da kommen mag? auf
Das Problem, das auf uns zukommt, ist, dass ich sehr bezweifle, dass alle Menschen mit Risikoerkrankung tatsächlich ein viertes Mal geimpft sind. Es ist eine allgemeine Impfmüdigkeit aufgenommen. Was geschieht, wenn Omikron auf eine wenig immunisierte Bevölkerung trifft, hat man in Hongkong gesehen. Dort lag die Sterblichkeit bis zu sieben Prozent. Ich würde die Impfung jederzeit vorziehen. Denn diese verhindert zuverlässig Long-Covid und schwere Komplikationen. Ich werde mich – wenn Möglichkeit besteht – ein fünftes Mal impfen lassen. Im Grunde hat jeder von uns nur drei Möglichkeiten, mit Covid umzugehen: sich infizieren, sich impfen lassen - oder als Eremit zu leben. Zur Person: Jürgen Schmidt, 61 Jahre alt, ist seit zweieinhalb Jahren Chefarzt im Klinikum Landkreis Tuttlingen, davor war er zehn Jahre lang Chefarzt in Überlingen am See. Schmidt ist Facharzt für Innere Medizin, Schwerpunkt Gastroenterologie und in Tuttlingen auch im Bereich Onkologie und Diabetologie tätig.