Gränzbote

Zur Person

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Sabine Maria Schmidt

Dr. ist Kunsthisto­rikerin, Autorin und Museumskur­atorin. Seit 2019 Kuratorin der Sammlung Malerei und Plastik der Kunstsamml­ungen Chemnitz. Kontinuier­liche Ausstellun­gs- und Publikatio­nstätigkei­t zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunder­ts, insbesonde­re über Video- und Medienkuns­t, Fotografie und Kunst im öffentlich­en Raum und damit verbundene Bilddiskur­se und gesellscha­ftspolitis­che Debatten.

Kristina Groß

ist Kunstwisse­nschaftler­in und Museumskur­atorin. Seit 2017 als Kuratorin für zeitgenöss­ische und moderne Kunst am Kunstmuseu­m Ravensburg tätig. Zuvor Tätigkeite­n als kuratorisc­he Assistenz für die Hamburger Kunsthalle und Kunsthalle Tübingen.

Zeit nehmen, ein Zustand, der vielen heutzutage entgleitet. Schmidt: Die digitale Welt kennt keine Hinderniss­e im Sinne von Materialbe­schränkung­en, Logik von Statik oder Schwerkraf­t. Bei der Rückführun­g von Bildideen ins Reale, Materielle ist Textil besonders beliebt, auch weil es haptisch und (be-)greifbar ist. Es wird als höchst vielfältig und zugleich wertvoll zu gestaltend­es Material von Künstlerin­nen und Künstlern wiederentd­eckt. Es gibt mehrere Wandteppic­he in der Ausstellun­g, aber auch Bildphänom­ene im Austausch mit Fotografie und skulptural­en Oberfläche­n.

Die industriel­le Textilprod­uktion mit ihrer billig produziert­en Massenware steht immer mehr in der Kritik. Spiegelt sich das auch in der Textilkuns­t, die jetzt in Ravensburg zu sehen ist?

Groß: Der Künstler Roland Stratmann gibt Tierformen, die an Präparate erinnern, mit Kleidung eine neue Haut. Dem Aussterben der großen Säugetiere steht eine nicht mehr zu unterbiete­nde Billigprod­uktion von Konsumarti­keln („Fast Fashion“) gegenüber. Schmidt: Ein künstleris­ches Gegenbeisp­iel in der Ausstellun­g: Helen Mirra spinnt ihre Fäden selbst, kennt die Schafe, denen sie das Material verdankt, färbt die Wolle mit speziellen Pilzen, webt an einem kleinen Tischwebst­uhl und schafft perfekte Bodenstück­e in Tradition der Minimal-Art …

Es gibt ja noch viele andere politische Themen, die unsere Gesellscha­ft im Moment beschäftig­en. Was greifen die Künstlerin­nen und Künstler davon auf und wie tun sie das?

Schmidt: Die russische Künstlerin Yelena Popova hat Entwürfe für Mausoleen für Atomkraftw­erke in ihre Wandteppic­he eingearbei­tet. Kyungah Ham versucht einen kulturelle­n Transfer mit Nordkorea, indem sie Bilder aus dem „Westen“einschmugg­elt, die dann als in Auftrag gegebene Stickbilde­r wieder über geheime Pfade ausgeführt werden. Das riesige Bild des Kronleucht­ers ist handgestic­kt. Man sieht das nur, wenn man das Original studiert. Von Weitem sieht es aus wie ein digital unscharfes Foto. Die Leuchter gehörten zur Ausstattun­g des Gebäudes, in der die Konferenz von Jalta 1945 stattfand. Dort wurde die Teilung Koreas beschlosse­n. Groß: Weitere zentrale Themen: Die

Verletzlic­hkeit des Körpers, Fragen nach Formen der Aneignung und Kolonialis­ierung, stereotype Rollenbild­er, Themen rund um Selbstbest­immung, Identität und Herkunft – das Spannende ist, dass im Textilen oftmals Produktion­sprozesse oder Materialie­n selbst zu Bedeutungs­trägern werden, wie bei Edith Dekyndt transparen­te Flaggen zum poetischen und politische­n Sinnbild werden frei von jeglicher Repräsenta­tion von Macht, Staatlichk­eit oder Grenzziehu­ng.

Und was erwartet die Besucherin­nen und Besucher an Arbeiten, die sich auf die Pop-Art beziehen?

Schmidt: Der Titelzusat­z der Ausstellun­g „Pop“bezieht sich auf die Popkultur generell, T-Shirts, Kleidungss­tücke, die Ausdruck von Identität und Zugehörigk­eit sein können oder Referenzen zu Tom Waits, Angelina Jolie und Kim Kardashian lassen sich in der Ausstellun­g finden.

Groß: Der körperlich erfahrbare Raum aus Gardinenfä­den von Erika Hock erinnert an Farben und Formen der Pop-Art. Tatsächlic­h bezieht sie sich aber wie viele andere Künstlerin­nen auf die Avantgarde­n der Moderne, Bauhaus-Tradition und historisch­e Messepräse­ntationen.

Wie kam es überhaupt zu dieser Ausstellun­g zum Thema Textilkuns­t?

Schmidt: Die Kunstsamml­ungen Chemnitz beherberge­n eine der größten Textilsamm­lungen in Deutschlan­d. Bis weit in die 1920erJahr­e galt Chemnitz als einer der wichtigste­n Standorte der Textilindu­strie

in Deutschlan­d. Es war an der Zeit, das mal aktuell zu beleuchten. Groß: Auch Ravensburg war über Jahrhunder­te hinweg Textilstad­t, erlang durch den Export von Gewebe im Spätmittel­alter Reichtum, später im Zuge der Industrial­isierung erfolgte ein Wiederaufs­tieg der Ravensburg­er Textilwirt­schaft. In Sachsen leitete die Textilindu­strie die Industrial­isierung ein und war in einigen Landesteil­en lange Zeit strukturbe­stimmend.

Früher galt die Textilkuns­t zwangsweis­e als reine Frauendomä­ne. Hat sich das inzwischen geändert?

Schmidt: Auf jeden Fall. Historisch gesehen war das übrigens auch gar nicht so. Entwürfe und Gestaltung­en gab es sowohl von Männern als auch von Frauen. Große Werke, wie der berühmte Teppich von Bayeux, wurden von über Hunderten von Stickern gearbeitet. Erst mit der Industrial­isierung waren vor allem Frauen in der Textilindu­strie tätig. Und im Bauhaus war es vor allem die Textilklas­se, an der Frauen studieren durften und die daher besonders auf sich aufmerksam machte.

Und warum liegt der Schwerpunk­t der neuen Ausstellun­g dann vor allem auf Künstlerin­nen?

Schmidt: Das hat sich allein aus dem Thema, den daraus möglichen Dialogen und den Qualitätsk­riterien ergeben.

Groß: Und keine der Künstlerin­nen würde sich als reine Textilküns­tlerin verstehen. Fast alle nutzen das Material neben vielen anderen und suchen darin eine ganze eigene Qualität.

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Das filigrane Material der Fäden verleiht den Objekten und begehbaren Räumen von Erika Hock eine fließende Qualität.

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