Volksfestbesucher ignorieren Sittenwächter
Geht es während des Cannstatter Wasens sexistisch und diskriminierend zu? Sind Buden-Malereien frauenfeindlich? Eine Spurensuche.
STUTTGART - Ein bemerkenswertes Wiedersehen mit einer Bauchtänzerin beim Festtreiben auf dem Cannstatter Wasen. Wie seit Jahrzehnten thront sie als gemalte, leicht geschürzte Schönheit über der Schießbude mit dem Orient-Motto 1001 Nacht. Während des Frühlingsfestes vor fünf Monaten am gleichen Ort trug die Dame aber noch einen minimalistischen roten Büstenhalter. Dieser ist inzwischen enorm gewachsen – die Folge eines Sexismusstreits um vermeintlich anstößige Malereien an Schausteller-Betrieben.
Er war seinerzeit von Stuttgarts grünen Gemeinderäten initiiert worden, darunter Petra Rühle. Sie sah bei manchen auf dem Festplatz beobachteten, seit Jahrzehnten bekannten Budenbemalungen „schon einen Aufruf zur Vergewaltigung“.
Worauf ein Sturm losbrach, dass selbst der benachbarte Neckar hohe Wellen zu schlagen schien. Als Dreingabe zum Sexismus-Vorwurf beklagten die Grünen zudem „diskriminierende Zeichnungen“, etwa mollige Scheichs mit Turban am Kinderkarussell. Befeuert wurde der Konflikt durch die Gegenposition von Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper. Der CDU-Politiker meinte kühl: „Der Gemeinderat sollte keine Zensurbehörde, kein Hoher Rat der Tugend- und Sittenwächter, der Inquisitoren und Diskriminierungsfahnder werden.“
Etwas ruhiger betrachtet, haben die Grünen aber durchaus einen wunden Punkt berührt, der auf Volksfesten gerne ausgeblendet wird: nämlich wie stark Frauen Belästigungen erleben. Manch Betrunkener streckt zur späten Stunde seine Hände dorthin aus, wo sie unerwünscht sind. Gerade jüngere Bedienungen wissen ein Lied davon zu singen – auch auf dem Cannstatter Wasen. „Der Klatsch auf den Po ist der Klassiker“, heißt es dazu.
Bei den Stuttgarter Grünen hatte sich aber offenbar während des Frühlingsfests die Überzeugung entwickelt, Männer könnten durch Schausteller-Bildchen verstärkt zu solchem Tun angeregt werden. So würden Frauen in solchen Zeichnungen als „ständig verfügbares Sexobjekt“präsentiert. Wie aber nun bei der Bauchtänzerin an der Schießbude festzustellen ist, hat sich auf dem Wasen etwas in Richtung Züchtigkeit entwickelt – auch wenn schon seinerzeit im Frühling die Schießbuden-Besitzerin Sabine Ernst den Sinn nicht verstand. „Ich empfinde die Bemalung weder als diskriminierend noch als sexistisch“, betonte die Frau.
Weil Sabine Ernst momentan gesundheitlich angeschlagen ist, hat während des Volksfests Thomas Bruch ihre Vertretung in der Schießbude übernommen – wie sie Mitglied einer alten Schaustellerfamilie. „Wir übermalen oder überkleben so etwas nun, damit es keinen Ärger gibt“, sagt er. „Es ist für mich aber nicht nachvollziehbar, dass solch eine Malerei je problematisch werden konnte. Die Bauchtänzerin gehört seit vielen Jahren zu unserem Thema 1001 Nacht.“
Nochmals ein Blick hinauf zur leicht geschürzten Dame mit ihrem neuen BH. Letztlich wirkt die Darstellung so bieder wie eine Häkeldecke auf dem Wohnzimmertisch – ganz gleich, ob nun zwei Zentimeter mehr oder weniger Brust zu sehen sind. Wer aber unbedingt als Sittenpolizei über das Wasengelände streifen möchte, kann einiges entdecken, was womöglich einem strengen moralischen Blick nicht standhält, beziehungsweise Feministinnen übel aufstoßen könnte.
Ein Gipfel von eventueller Frivolität wird auf dem am Rand des Volksfestes aufgebauten Krämermarkt erreicht. Dort wirbt ein Stand mit dem Fotoplakat eines Strumpfhosenmodells um Kundschaft für Unterwäsche. Vielleicht trägt die junge Frau sogar Strapse, der erotische Traum früherer Männergenerationen. So genau lässt sich dies nicht ausmachen. Und man will ja als Mann nicht minutenlang darauf stieren. Nach einem kurzen Überlegen, folgt aber schließlich die Erkenntnis, dass das aufreizende Bild nur die übliche
Werbung entsprechender Hersteller wie Wolford ist – und dass schon der alte Quelle-Katalog zugespitztere Darstellungen kannte.
Wenn Schausteller ihr Unverständnis über Sexismus-Vorwürfe erklären wollen, kommen ähnliche Argumente. Schon morgens seien im Fernsehen ganz andere Frauendarstellungen zu sehen als an der einen oder anderen Bude, heißt es oft. Die Klagen über die Pinseleien „sind so ein Schwachsinn“, meint selbst eine junge Blondine, die im Kassenhäuschen eines schrillen Karussellbetriebs sitzt. „Was soll da schlimm sein?“, fragt sie und zeigt mit tätowierter Hand auf Break-Dance-Szenen im Stil besserer Comic-Bilder.
Zumindest eine dieser Darstellung stieß Abgesandten der Stuttgarter Grünen im Frühjahr aber übel auf: die einer barbusigen Gitarrenspielerin. Sie hat nun auch verdeckte Brüste.
„Um des Friedens Willen“, erklärt die Kassenfrau. Wobei schon von Weitem zu sehen ist, dass den kritisierten Busen einfach ein Klebeband übergezogen wurde. Zum richtigen Übermalen hat es wohl nicht gereicht. Vielleicht war nach zwei schmalen Corona-Jahren mit Lockdowns und Einnahmeausfällen auf die Schnelle kein Geld mehr dafür da. Lackierereien, wie sie an Schaustellergeschäften üblich sind, kosten rasch fünfstellige Geldsummen.
„So ist das“, attestiert die Frau. Dann gibt sie süffisant lächelnd einen Tipp für die Suche nach weiteren sexistischen Verdachtsfällen. Demnach solle es möglich sein, bei einer Geisterbahn einer weiblichen Puppe unter den Rock schauen zu können. Sofort wird nachgeschaut. Und siehe da. Gemeint ist eine krummnasige alte Hexe, die auf ihrem Besen hoch durch die Lüfte kreist. Wobei unter dem schwarzen Rock bloß der metallene Gelenkarm zu entdecken ist, mit dem die Figur an der düsteren Kulisse des Gespenster-Betriebs festgemacht ist.
Der Tipp war wohl nichts. Es drängt sich der Eindruck auf, dass bei dem Thema Sexismus auf dem Volksfest nicht jeder mit vollem Ernst dabei ist – geschweige denn eine allgemeine Verschwörung gegen das weibliche Geschlecht verortet. Als weiteres Beispiel dazu dient ein Grüppchen Studenten vor einem der riesigen Bierzelte. Sie linsen zu einer Achterbahn hinüber, die als MalereiMotiv die Heidi-Geschichte aus den Graubündner Bergen hat. „Die kleine Heidi hat sich aber stark entwickelt“, scherzt Samuel Oswald. In der Tat: Abgebildet ist eine ausgewachsene Blondine im Dirndl, die beträchtliche Einblicke ins Dekolleté bietet.
„Das ist die Freiheit der Kunst“, argumentiert Oswald. Sein Kommilitone Robin Zürn meint: „Man muss ja nicht alles so eng sehen.“Als Dritter im Bunde sagt Florian Schuler, er würde „da gar nicht so drauf schauen“. Zwei hinzukommende Studentinnen, Maren Baumgärtner und Lena Eckert, erklären kurzum: „Wir fühlen uns davon nicht gestört.“Später betonen zwei weitere Studentinnen angeheitert zur Sexismus-Debatte: „Das ist ein völlig unsinniger Ärger.“Wobei ergänzt werden muss: Alle vier Vertreterinnen der Weiblichkeit tragen ebenso Dirndl wie die stramme Heidi auf dem Achterbahnbild. Bloß das studentische Dekolleté an Bluse und Kleidchen wirkt bescheidener.
Dass sich dieser oberbayerische Trachtenverschnitt auch am Neckar breitgemacht hat, ist seit Langem sichtbar – ebenso wie der männliche Griff zur alpinen Lederhose. Wobei damit auf dem Wasen höchstens die Biertische in den Zelten bestiegen werden – und dies schon am Nachmittag. Beim Wasenwirt hat sich zu solch früher Stunde eine Gruppe junger Menschen warmgetrunken. Bei der Musik heben Mädels ihre Dirndl, sodass das Hinterteil sichtbar wird. Das wahre Leben übertrifft die naiven Schausteller-Malereien um Lichtjahre.
Wobei dies alles nur ein Vorspiel auf den späteren Abend ist: zumal beim Wasenwirt. Gleich siebenmal während des zweieinhalbwöchigen Festes tritt dort DJ Robin auf, ein gebürtiger Stuttgarter. Der Musikant ist jüngst als „Layla“-Interpret über die Mallorca-Partyszene hinaus bekannt geworden. Dass er nicht „We Shall Overcome“singt, darf vorausgesetzt werden. „Layla“steht auf dem Programm: „ Ich hab’ nen Puff und meine Puffmama heißt Layla. Sie ist schöner, jünger, geiler ...“
Es handelt sich um eines der üblichen Gröl-Lieder und bei Weitem nicht um das anrüchigste. Jedenfalls tobt das Festzelt laut Kellner-Beschreibung jedes Mal vor Begeisterung.
Frauenrechtlerinnen und ihre Sympathisanten sind hingegen wegen „Layla“entsetzt. Den ganzen Sommer über forderten sie ein Verbot. Für die Münchner Wiesn hat dabei Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der CSU klargemacht: „Jeder soll singen können, was er will.“Das baden-württembergische Staatsministerium verlautbarte dazu: Man habe in Sachen „Layla“keinen Kommentierungsbedarf. Woraus zumindest geschlossen werden kann, dass der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann Wichtigeres zu tun hat, als sich mit Saufgesang zu beschäftigen.
Übrigens grölen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts bei „Layla“ungeniert mit, wie einige Frauen im Bierzelt ungeniert zugeben. Darunter sind Julia und Sophia, junge Mädels, ebenso mit Dirndl uniformiert und nach der jüngsten musischen Intonierung leicht verschwitzt. Ihre Einstellung: „Wir wollen hier Spaß haben und uns von niemandem was vorschreiben lassen.“Es folgt ein Seitenhieb auf die Grünen. Es ist nicht der erste, den man während des Volksfestbesuchs hören kann. Sie scheinen es auf dem Wasen nicht einfach zu haben – wenigstens mit Blick auf das Diskriminierungsanliegen ihrer Stuttgarter Gemeinderatsfraktion.
Öffentlich ist übrigens aus deren Reihen gegenwärtig nichts zum vermuteten Fest-Sexismus zu vernehmen. Vielleicht war alles doch nur ein Sturm im Wasserglas. Der neben dem Vorwurf der Frauen-Diskriminierung zusätzlich hochgespielte Rassismus-Verdacht ist offenbar sogar komplett verpufft.
Dazu nochmals ein Gang durch die Gassen der Schaustellerbuden. Siehe da: Auf einer SchießbudenMalerei toben Cowboys und Indianer in Darstellungsformen alter Hollywood-Western. Nach Maßstäben linker politischer Korrektheit geht dies gar nicht. Schon allein der Begriff Indianer ist in diesen Kreisen verpönt. Vermutlich kann sich der Betreiber noch glücklich schätzen, dass nicht Winnetou abgebildet ist. In diesem Zusammenhang hat ja der Ravensburger Buchverlag kürzlich ein Buch zurückgezogen.
Auch mollige Scheichs im Cartoon-Stil reiten unbehelligt auf fröhlichen Kamelen in der Karawane mit. Da ist thematisch der Weg zu Haremsdamen und Bauchtänzerinnen nicht weit und damit noch einmal zur Schießbude 1001 Nacht – zum Abschied von der züchtiger gewordenen Bauchtänzerin. Unter ihr haben sich zwei junge Burschen zum Schießen eingefunden. Das Ziel: jeweils eine Plastikrose für die weibliche Begleitung – eine Traditionshandlung männlichen Nachwuchses. Erstaunlicherweise outen sich die beiden als Jusos. Einer, der sich als Klaus vorstellt, trägt zur Diskussion bei: „Gut finde ich die Malereien mit den Frauen ja nicht. Aber wen es zu sehr stört, der muss eben wegbleiben.“