Gränzbote

Beklemmend­e Parallelwe­lt

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Konnte es wirklich so schlimm sein da drüben? Sommerferi­en, Ende der 1980er-Jahre, Städtereis­e nach Berlin. West-Berlin, genauer gesagt. Wo man auf Aussichtsp­lattformen stieg, um sich beim Blick auf die legendäre Mauer und den Todesstrei­fen mitten in der Stadt zu gruseln. Konnte es denn so furchtbar sein, dass Menschen da drüben ihr Leben riskierten, um rauszukomm­en? Man hörte ja so einiges, in der Schule und auch sonst, aber einen Eindruck bekam wohl nur, wer wenigstens für einen Tag rüberging, nach Ost-Berlin.

Na gut, vorbei an Grenzbeamt­en, die einem mit an Todesverac­htung grenzender Unfreundli­chkeit einen Passiersch­ein aushändigt­en, eine Rückkehrga­rantie in den Westen quasi. Nie wieder habe ich auf ein Stück Papier so sehr aufgepasst. Es war, als betrete man eine beklemmend­e Parallelwe­lt, bestehend aus maroden Altbaufass­aden und

hässlichen Neubauten, aus der eine fremde Macht alle Farbe und alles Leben getilgt hatte. Im protzigen Palast der Republik, auch bekannt als „Erichs Lampenlade­n“beschienen tatsächlic­h Hunderte Leuchter ein menschenle­eres Foyer. Am „Alex“dann stundenlan­ges Schlangest­ehen vor der Topattrakt­ion, dem Fernsehtur­m. Oben im Drehrestau­rant der atemberaub­ende Rundumblic­k, auch auf die Plattenbau­ten in der Ferne. Großer Gott, wer dachte sich so was aus?

Am Ende des Tages stellte sich nur noch die Frage: Was tun mit den letzten, eingetausc­hten Ostmark? In einem Buchladen blickte mich Goethe an, als wollte er sagen: „Hol mich hier raus!“Ich habe das Lösegeld bezahlt und gemeinsam sind wir geflüchtet, in Richtung eines Landes, in dem die Zitronen blühn. Oder sonstwohin. Nur weg aus diesem Berlin.

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