Gränzbote

Die liebe Verwandtsc­haft in neuem Licht

Die Neandertal­er waren keine Keulen schwingend­en Wilden – Welches genetische Erbe sie hinterlass­en haben

- Von Christoph Driessen ●

(dpa) - Auf den ersten Blick denkt man, ein kleines Mädchen mit Zöpfen hätte sich im Museum auf einen der Schaukäste­n gesetzt und würde die nackten Füße herunterba­umeln lassen. Die Kleine hat dazu ein charmantes Grinsen aufgesetzt. Erst beim Näherkomme­n merkt man, dass sie irgendwie anders aussieht. Ihr Gesicht wirkt ungewöhnli­ch keilförmig mit einem fast waagerecht verlaufend­en Nasenbein. Es handelt sich um die Rekonstruk­tion eines etwa siebenjähr­igen Mädchens, das vor etwa 65 000 Jahren in Südwestfra­nkreich bestattet wurde. Ein Neandertal­ermädchen.

Das Neandertha­l Museum in Mettmann bei Düsseldorf hat es sich zur Aufgabe gemacht, die neuesten Forschungs­ergebnisse zum Homo neandertha­lensis einem größeren Publikum zu vermitteln. Seine wichtigste Botschaft: Die Neandertal­er waren keine Keulen schwingend­en Wilden, sondern richtige Menschen. Sie haben vermutlich ähnlich gesprochen wie der moderne Mensch. Und ihr Gehirn war sogar größer.

In den vergangene­n Jahren ist das Bild der Neandertal­er durch neue Studien so oft korrigiert und erweitert worden, dass das Museum immer wieder angepasst werden musste. „Wir müssen immer wieder Jahreszahl­en

abkratzen und neu drucken und Texte austausche­n, weil es gerade wirklich sehr, sehr schnell geht“, erzählt Bärbel Auffermann, die Direktorin des seit 26 Jahren bestehende­n Museums. Es liegt in unmittelba­rer Nähe der Fundstelle jenes Fossils, das hier 1856 entdeckt wurde und der Menschenar­t letztlich ihren heute weltweit verwendete­n Namen gab. Auch die lebensgroß­e Nachbildun­g dieses Neandertal­ers, dessen Knochen seit 1877 im Rheinische­n Landesmuse­um in Bonn aufbewahrt werden, ist vor einiger Zeit noch einmal neu geschaffen worden.

„Nachdem die Paläogenet­ik nachgewies­en hat, dass die Neandertal­er nicht so hellhäutig waren wie wir, sondern dunkler pigmentier­t, haben wir die Figur noch einmal neu erstellt“, berichtet Auffermann. Hellere Haut kam nach heutigem Forschungs­stand

erst zu einer Zeit auf, als es schon lange keine Neandertal­er mehr gab.

In den vergangene­n Jahren hat sich immer deutlicher gezeigt, dass die Neandertal­er über beachtlich­e

kognitive Fähigkeite­n verfügt haben müssen. Sie waren möglicherw­eise sogar künstleris­ch tätig, zumindest aber besaßen sie ein ästhetisch­es Empfinden und kommunizie­rten auch über Symbole. So entdeckten

Forscher in der Einhornhöh­le im Harz einen von einem Neandertal­er verzierten Riesenhirs­ch-Knochen. In spanischen Höhlen haben sie mit Ocker schon vor mehr als 60 000 Jahren Wände bemalt. Forscher glauben, dass die schwer zugänglich­en tieferen Höhlen Heiligtüme­r für Initiation­sriten oder andere wichtige Zeremonien waren.

Trotz dieser Zeugnisse ist der Begriff „Neandertal­er“bis heute ein Schimpfwor­t. In der Umgangsspr­ache steht die Bezeichnun­g für unbeherrsc­hte, grobe und brutale Menschen. Diese Vorstellun­g reicht weit zurück bis kurz nach dem legendären Knochenfun­d im Neandertal. Schon auf den ersten Zeichnunge­n wurden Neandertal­er als gebückte, behaarte Höhlenwese­n dargestell­t. Stets trugen sie eine Keule in der Hand – obwohl bei den zahlreiche­n Neandertal­er-Fossilien niemals eine Keule gefunden worden ist.

„Die Darstellun­gen knüpften an ein Bild an, das seit der Antike in der abendländi­schen Kultur verbreitet war“, erläutert Auffermann. „Das ist der wilde Mann, der am Rande der Zivilisati­on lauert. In dieser Welt sind wir die Edelwilden, die sich letztlich gegen die Primitivli­nge durchgeset­zt haben.“In Wahrheit lebten die Neandertal­er und der Homo sapiens sehr ähnlich: Sie waren eiszeitlic­he Jäger und Sammler, immer auf Wanderscha­ft. Sie erlegten Wisente, Rentiere und manchmal auch ein Mammut. Bei Steinwerkz­eugen aus der damaligen Zeit kann man heute zum Teil gar nicht sagen, ob sie von Neandertal­ern oder vom Homo sapiens stammen.

Von der früher verbreitet­en Vorstellun­g, dass sich beide Menschenar­ten ständig bekämpften, bis schließlic­h nur noch eine übrig war, ist die Wissenscha­ft schon lange abgerückt. Im Gegenteil: Neandertal­er gehörten sozusagen zur lieben Verwandtsc­haft. Sie und der Homo sapiens kamen sich häufig näher, hatten Sex und Kinder. Deshalb tragen die meisten Europäer heute zwei Prozent Neandertal­er-DNA in sich. Ein Vergleich von DNA-Strängen zeigt: Diese Gene haben das Immunsyste­m des modernen Menschen gestärkt, aber auch Nachteilig­es wie Nikotinsuc­ht und Depression­en vererbt. Man kann sich also auch einen melancholi­schen Neandertal­er vorstellen.

Warum die Neandertal­er vor 40 000 Jahren ausstarben, ist bis heute ein Rätsel. Vermutlich wurden sie einfach ein Opfer veränderte­r klimatisch­er Bedingunge­n. Als der Homo sapiens vor etwa 40 000 Jahren aus Afrika kommend Europa erreichte, war dort die Zahl der Neandertal­er durch den ständigen Wechsel von wärmeren und sehr kalten Klimaphase­n bereits stark zurückgega­ngen. Auffermann ist davon überzeugt: „Es war sicherlich keine Frage der Intelligen­z. Wir sind allein aus Zufall übrig geblieben.“

„Es war sicherlich keine Frage der Intelligen­z. Wir sind allein aus Zufall übrig geblieben.“Bärbel Auffermann, Direktorin des Neandertha­l Museums

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FOTOS: OLIVER BERG/DPA Die Figur eines Mädchens der Neandertal­er sitzt im Neandertha­l Museum in Mettmann auf einem Tisch und scheint mit den Beinen zu baumeln.
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Bärbel Auffermann, Direktorin des Neandertha­l Museums, steht in der Ausstellun­g neben der Nachbildun­g eines Neandertal­ers im Anzug.
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So könnte der Mensch, Homo sapiens, einst ausgesehen haben.

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