„Transportzeiten von einer Stunde“
Notfallsanitäter Riccardo Lardino über lange Wege, träge Behörden und Selbstdisziplin bei der Silvesterfeier
- Besonders im ländlichen Raum ist es ein Problem: Weil die Notaufnahmen überlastet sind, müssen Rettungswagen ihre schwer kranken Patienten kilometerweit fahren. Wie sich das auswirkt und wo die Probleme liegen, erklärt der Notfallsanitäter Riccardo Lardino. Er ist Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Rettungswesens in Baden-Württemberg.
In Berlin müssen Löschfahrzeuge Notfallpatienten ins Krankenhaus fahren, weil Rettungswagen fehlen. Droht uns das in Baden-Württemberg auch?
Solche Fälle gab es in Baden-Württemberg bereits vereinzelt. Auch bei uns sind Krankenhäuser am Anschlag, die Notaufnahmen überfüllt und außerdem hat die Zahl der Rettungseinsätze mit dem Abflauen der Corona-Pandemie extrem zugenommen. Und diesen Trend gibt es schon seit Jahren.
Was bedeutet das für lebensbedrohlich erkrankte Patienten?
Wer die 112 wählt, bekommt in der Regel innerhalb kürzester Zeit Hilfe, das ist nicht das Problem. Aber weil die Notaufnahmen so überlastet sind, müssen Rettungswagen oft lange nach einer Klinik suchen, die ihren Patienten aufnimmt. Besonders im ländlichen Raum sind oft in einem Kreis alle Häuser abgemeldet. Da kommen dann Transportzeiten von einer Stunde zustande, das Ganze unter widrigen Umständen, beispielsweise im Winter bei Schneetreiben und entsprechenden Straßenverhältnissen. Mir ist das erst vor Kurzem passiert, hierbei nahm der Patient aufgrund der Verzögerung gesundheitlichen Schaden.
Sind das Ausnahmen?
Nein, besonders im ländlichen Bereich gehört das fast schon zum Alltag. Je länger es dauert, bis eine angemessene Behandlung beginnt, desto größer die Gefahr bleibender gesundheitlicher Schäden.
Wo liegen die Ursachen für diese Probleme?
Zunächst einmal haben leider viele Menschen verlernt, für ihre eigene Gesundheit zu sorgen. Man geht nicht regelmäßig zum Hausarzt, nicht rechtzeitig zum Facharzt. Selbst mit kleineren Bagatellen kommen viele nicht mehr allein zurecht. Dann rufen sie den Rettungswagen oder gehen in die Notaufnahme. Aber wir sind nicht der Joker, um in allen medizinischen Belangen eine schnellstmögliche Therapie zu erhalten. Ganz im Gegenteil: Wer mit dem Rettungswagen eingeliefert wird, bekommt nicht zwangsläufig direkt ein Krankenhausbett. Denn man geht ja dann erst einmal davon aus, dass der Patient durch die Notfallbehandlung stabil ist.
Allerdings warten viele Menschen mittlerweile sehr lange auf einen Termin beim Facharzt …
Das stimmt, das ist keineswegs nur in ländlichen Gebieten so. Da müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen dringend etwas tun.
Zuletzt gab es auch immer wieder Klagen über die Erreichbarkeit des ärztlichen Notdienstes unter der Nummer 116 117, der ja eigentlich Patienten helfen soll, die keine Notfälle sind.
Dieses Problem gibt es in BadenWürttemberg leider seit Implementierung eigener Callcenter durch die Kassenärztliche Vereinigung für die 116 117. Auch der Rettungs- und Notarztdienst bleibt von langen Wartezeiten an dieser Hotline nicht verschont. Wir müssen beispielsweise Patienten weiter an diese vermitteln, bei denen sich vor Ort kein akuter Notfall feststellen lässt oder die den Notarztdienst für eine Leichenschau anfordern. Wartezeiten von bis zu 30 Minuten sind leider keine Seltenheit – womit unsere Verfügbarkeit für weitere Einsätze eingeschränkt ist.
Wie sieht der Berufsalltag von Rettern unter diesen Bedingungen aus?
Wir machen viele Überstunden – wegen der langen Fahrtzeiten zu einem Krankenhaus, wegen Personalmangels. Zum anderen steigt die psychische Belastung, weil wir sehen, dass die Patienten oft nicht optimal versorgt sind. Das geht so lange, bis die Kollegen nicht mehr können. Das passiert leider zunehmend.
Finden die Rettungsdienste denn ausreichend Personal?
Die Lage bessert sich gerade etwas. Allerdings ist der Job leider nicht attraktiv genug. Zum einen gibt es kaum Aufstiegsmöglichkeiten, zum anderen schrecken die Arbeitsbedingungen ab. Da müsste man dringend nachbessern. Es geht nicht allein ums Geld, sondern um mehr planbare Freizeit und bessere Arbeitsbedingungen. Spontanes Einspringen oder der Verzicht auf Abbau von Überstunden sind leider die Regel geworden.
Immer mehr kleine Krankenhäuser schließen. Welche Auswirkungen hat das auf den Rettungsdienst?
Diese Ausdünnung ist ein Problem. Man schließt Kliniken, optimiert aber nicht gleichzeitig das Rettungswesen. Außerdem müsste man bei der Schließung eben auch die Belange des Rettungsdienstes mit einplanen, aber eine stringente Planung der Krankenhausstrukturen erkenne ich nicht. Das wird besonders im ländlichen Raum zum Problem, weil sich dort die Transportzeiten ganz schnell erheblich verlängern.
Was müsste sich aus Ihrer dringend ändern? Sicht
Wir müssten die integrierten Leitstellen in ihren Kompetenzen stärken. Dort werden alle Notrufe für Feuerwehr und Rettungsdienste angenommen und die Einsätze koordiniert. Wo sinnvoll, sollten sie zu größeren regionalen Leitstellen fusionieren. Damit würde man die Einsätze in einem größeren Gebiet im Blick haben, das macht sehr viel Sinn. Außerdem müssten die Disponenten dort auch entscheiden können, ob ein Patient einen Rettungswagen benötigt oder vielleicht beim ärztlichen Notdienst auch gut versorgt wäre. Das dürfen sie bislang nicht, in Ländern wie Italien oder Frankreich funktioniert das nach entsprechenden Schulungen aber schon, so würde man bis zu 40 Prozent der Fehlfahrten vermeiden.
Fürchten Sie, dass regionale Rivalitäten im Weg stehen, wenn Leitstellen zusammengelegt werden?
So etwas spielt sicher eine Rolle. Aufgrund der Trägheit des zuständigen Ministeriums und der eingerichteten Planungsgruppe kann man in Baden-Württemberg dabei zusehen, wie lokale Strukturen geschaffen werden, wo überregional gedacht werden muss. Die Planung der Standorte und Gebiete von Integrierten Leitstellen darf keine lokale oder regionale Angelegenheit sein. Sie muss ähnlich der Festlegung von Luftrettungsstrukturen im Land ausschließlich durch das zuständige innenministerium erfolgen, auch wenn natürlich lokale und regionale Besonderheiten berücksichtigt werden müssen. Das Innenministerium ist hier also mehr denn je gefordert, in Aktion zu treten.
Jetzt steht mit Silvester eine der Nächte mit den meisten Einsätzen für den Rettungsdienst an. Was wünschen Sie sich für den Start ins neue Jahr?
Ja, das ist das erste Silvester ohne Corona-Beschränkungen. Es wäre schön, wenn die Menschen auf sich und andere aufpassen – beim Feuerwerk und beim Alkohol. Ein wenig Selbstdisziplin hilft uns Einsatzkräften sehr.