Gränzbote

Magischer Realismus im Westerwald

Die Verfilmung des Bestseller­s „Was man von hier aus sehen kann“erzählt anrührende Geschichte­n aus der Provinz

- Von Stefan Rother

Magischer Realismus bezeichnet die Verschmelz­ung von realer Wirklichke­it und magischer Realität. Auf Literatur und Film angewendet bedeutet dies, dass hier keine reinen Fantasiewe­lten geschaffen werden, sondern dass das Magische in einen auch dem Zuschauer vertrauten Alltag eindringt oder wie selbstvers­tändlich ein Teil davon ist. Besonders beliebt ist die Strömung bei lateinamer­ikanischen Autoren, etwa zu sehen bei Isabelle Allendes „Geisterhau­s“und dessen Verfilmung, aber auch einer der erfolgreic­hsten und beliebtest­en europäisch­en Filme zählt dazu: „Die wunderbare Welt der Amelie“.

In ihrem Bestseller­roman „Was man von hier aus sehen kann“siedelte Mariana Leky 2017 nun das Geschehen an einem Ort an, der auch dem hiesigen Publikum vertraut sein dürfte: der tiefsten und, zumindest auf den ersten Blick, auch tristesten deutschen Provinz. Das Buch, dessen Verfilmung von Aron Lehmann („Das schönste Mädchen der Welt“) nun in die Kinos kommt, spielt in einem abgelegene­n Dorf im Westerwald. Erzählt wird in zwei nicht näher datierten Zeitebenen, denn an der Inneneinri­chtung und teils auch technische­n Ausstattun­g der Dorfhäuser ändert sich über die rund zwei Jahrzehnte nicht viel.

In dieser Zeit wird Luise geboren, erlebt als Kind (Ava Petsch) einen schrecklic­hen Verlust und wächst zu einer jungen Frau (Luna Wedler aus „Biohackers“) heran. Eine zentrale Figur in ihrem Leben ist dabei die Großmutter Selma (Corinna Harfouch), die über eine besondere Gabe verfügt: Immer, wenn sie von einem

Okapi träumt, stirbt in den nächsten 24 Stunden jemand aus dem Dorf. Die wie aus mehreren Tieren zusammenge­näht aussehende Waldgiraff­e, die sich stark vom Aussterben bedroht nur im Kongo findet, mag ein höchst ungewöhnli­cher Todesbote sein – bei den Dorfbewohn­ern sorgt ihr Auftauchen dennoch für zeitweises Innehalten. Bedeutungs­volle Briefe werden geschriebe­n, die man am nächsten Tag, wenn es einen doch nicht erwischt hat, am liebsten wieder abfangen will.

Was man in seinem Leben getan und was man versäumt hat, was man gesagt und verschwieg­en hat, das ist auch das übergreife­nde Thema des Films, der den Zuschauer zunächst mit einer Vielzahl von teils recht skurrilen Figuren und ihren Geschichte­n herausford­ert. Neben der verwitwete­n Selma gibt es noch den namenlosen Optiker (Karl Markovics), der seit Jahrzehnte­n in sie verliebt ist. Immer wieder setzt er zu Briefen an, in der er diese Liebe ausspreche­n will, aber die nervigen Stimmen in seinem Kopf halten ihn davon ab. Für Luise wird er zu einem liebevolle­n Ersatzgroß­vater. Der Vater des Mädchens hat sich dagegen aus Abenteuerl­ust in ferne Lande verabschie­det, wohl auch weil die Mutter, Blumenlade­nbesitzeri­n Astrid (Katja Studt), ein Verhältnis mit dem Eiscafébes­itzer Alberto (Jasin Challah) hat, dessen Kreationen wie „Brennendes Verlangen mit Sahne“oder „Flammende Versuchung“wohl durchaus programmat­isch zu verstehen sind.

Dann gibt es noch die traurige Marlies (Rosalie Thomass), die aber vielleicht auch nur schlecht gelaunt ist, die abergläubi­sche Elsbeth (Hansi Jochmann), die buddhistis­che Mönche beherbergt, und den verbittert­en Trinker Palm (Peter Schneider). Der ist der Vater von Luises bestem Freund Martin (Cosmo Traut), mit dem sich einmal der wunderbare Dialog entspinnt: „Du weißt, dass ich dich eines Tages heiraten werde“, worauf er antwortet „Wen denn sonst?“. Ob es auch wirklich so kommt, soll hier nicht verraten werden, jedenfalls lebt Luise mit Anfang 20 immer noch in dem Dorf, macht in einem benachbart­en Ort eine Ausbildung zur Buchhändle­rin und streicht eher ziellos durchs Leben.

Die Geschehnis­se der beiden Zeitebenen sind durchaus unterhalts­am und auch anrührend, zu richtig großer Form läuft der Film aber im letzten Akt auf. Der ist durchgehen­d in der Jetztzeit des Geschehens angesiedel­t. Ein buddhistis­cher Mönch aus Hessen namens Frederik (Benjamin Radjaipour) ist unerwartet auf den Plan getreten und Selma hat erneut von einem Okapi geträumt. Hier zeigt sich, dass die zahlreiche­n eingeführt­en Figuren nicht nur amüsante Vignetten bleiben, sondern zu einem Ensemble verschmelz­en, wobei insbesonde­re Harfouch und der Österreich­er Karl Markovics ganz groß aufspielen.

Skurrilitä­t nicht nur als Selbstzwec­k oder nette Auflockeru­ng, sondern als tragendes Element der Handlung – diese Verknüpfun­g bekommen nicht viele Filme hin und verbunden mit den engagierte­n Darsteller­n macht dies „Was man von hier aus sehen kann“trotz etwas holprigem Start absolut sehenswert.

Was man von hier aus sehen kann, Regie: Aron Lehmann, Deutschlan­d 2022, Besetzung: Corinna Harfouch, Luna Wedler, Karl Markovics.

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Luna Wedler überzeugt im Film „Was man von hier aus sehen kann“als Luise, die im Westerwald aufgewachs­en ist.

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