Magischer Realismus im Westerwald
Die Verfilmung des Bestsellers „Was man von hier aus sehen kann“erzählt anrührende Geschichten aus der Provinz
Magischer Realismus bezeichnet die Verschmelzung von realer Wirklichkeit und magischer Realität. Auf Literatur und Film angewendet bedeutet dies, dass hier keine reinen Fantasiewelten geschaffen werden, sondern dass das Magische in einen auch dem Zuschauer vertrauten Alltag eindringt oder wie selbstverständlich ein Teil davon ist. Besonders beliebt ist die Strömung bei lateinamerikanischen Autoren, etwa zu sehen bei Isabelle Allendes „Geisterhaus“und dessen Verfilmung, aber auch einer der erfolgreichsten und beliebtesten europäischen Filme zählt dazu: „Die wunderbare Welt der Amelie“.
In ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“siedelte Mariana Leky 2017 nun das Geschehen an einem Ort an, der auch dem hiesigen Publikum vertraut sein dürfte: der tiefsten und, zumindest auf den ersten Blick, auch tristesten deutschen Provinz. Das Buch, dessen Verfilmung von Aron Lehmann („Das schönste Mädchen der Welt“) nun in die Kinos kommt, spielt in einem abgelegenen Dorf im Westerwald. Erzählt wird in zwei nicht näher datierten Zeitebenen, denn an der Inneneinrichtung und teils auch technischen Ausstattung der Dorfhäuser ändert sich über die rund zwei Jahrzehnte nicht viel.
In dieser Zeit wird Luise geboren, erlebt als Kind (Ava Petsch) einen schrecklichen Verlust und wächst zu einer jungen Frau (Luna Wedler aus „Biohackers“) heran. Eine zentrale Figur in ihrem Leben ist dabei die Großmutter Selma (Corinna Harfouch), die über eine besondere Gabe verfügt: Immer, wenn sie von einem
Okapi träumt, stirbt in den nächsten 24 Stunden jemand aus dem Dorf. Die wie aus mehreren Tieren zusammengenäht aussehende Waldgiraffe, die sich stark vom Aussterben bedroht nur im Kongo findet, mag ein höchst ungewöhnlicher Todesbote sein – bei den Dorfbewohnern sorgt ihr Auftauchen dennoch für zeitweises Innehalten. Bedeutungsvolle Briefe werden geschrieben, die man am nächsten Tag, wenn es einen doch nicht erwischt hat, am liebsten wieder abfangen will.
Was man in seinem Leben getan und was man versäumt hat, was man gesagt und verschwiegen hat, das ist auch das übergreifende Thema des Films, der den Zuschauer zunächst mit einer Vielzahl von teils recht skurrilen Figuren und ihren Geschichten herausfordert. Neben der verwitweten Selma gibt es noch den namenlosen Optiker (Karl Markovics), der seit Jahrzehnten in sie verliebt ist. Immer wieder setzt er zu Briefen an, in der er diese Liebe aussprechen will, aber die nervigen Stimmen in seinem Kopf halten ihn davon ab. Für Luise wird er zu einem liebevollen Ersatzgroßvater. Der Vater des Mädchens hat sich dagegen aus Abenteuerlust in ferne Lande verabschiedet, wohl auch weil die Mutter, Blumenladenbesitzerin Astrid (Katja Studt), ein Verhältnis mit dem Eiscafébesitzer Alberto (Jasin Challah) hat, dessen Kreationen wie „Brennendes Verlangen mit Sahne“oder „Flammende Versuchung“wohl durchaus programmatisch zu verstehen sind.
Dann gibt es noch die traurige Marlies (Rosalie Thomass), die aber vielleicht auch nur schlecht gelaunt ist, die abergläubische Elsbeth (Hansi Jochmann), die buddhistische Mönche beherbergt, und den verbitterten Trinker Palm (Peter Schneider). Der ist der Vater von Luises bestem Freund Martin (Cosmo Traut), mit dem sich einmal der wunderbare Dialog entspinnt: „Du weißt, dass ich dich eines Tages heiraten werde“, worauf er antwortet „Wen denn sonst?“. Ob es auch wirklich so kommt, soll hier nicht verraten werden, jedenfalls lebt Luise mit Anfang 20 immer noch in dem Dorf, macht in einem benachbarten Ort eine Ausbildung zur Buchhändlerin und streicht eher ziellos durchs Leben.
Die Geschehnisse der beiden Zeitebenen sind durchaus unterhaltsam und auch anrührend, zu richtig großer Form läuft der Film aber im letzten Akt auf. Der ist durchgehend in der Jetztzeit des Geschehens angesiedelt. Ein buddhistischer Mönch aus Hessen namens Frederik (Benjamin Radjaipour) ist unerwartet auf den Plan getreten und Selma hat erneut von einem Okapi geträumt. Hier zeigt sich, dass die zahlreichen eingeführten Figuren nicht nur amüsante Vignetten bleiben, sondern zu einem Ensemble verschmelzen, wobei insbesondere Harfouch und der Österreicher Karl Markovics ganz groß aufspielen.
Skurrilität nicht nur als Selbstzweck oder nette Auflockerung, sondern als tragendes Element der Handlung – diese Verknüpfung bekommen nicht viele Filme hin und verbunden mit den engagierten Darstellern macht dies „Was man von hier aus sehen kann“trotz etwas holprigem Start absolut sehenswert.
Was man von hier aus sehen kann, Regie: Aron Lehmann, Deutschland 2022, Besetzung: Corinna Harfouch, Luna Wedler, Karl Markovics.