„Oberstdorf ist eher Belastung als Chance“
Der vierfache Gesamtsieger Jens Weißflog über den Stellenwert der Vierschanzentournee, die immense Erwartungshaltung in Deutschland und die Zukunft des Skispringens
- Jens Weißflog hat das geschafft, wovon jeder Skispringer träumt und was nur fünf Athleten vollbrachten: Ihm ist es gelungen, den Gesamtweltcup, die Weltmeisterschaft, die Vierschanzentournee und Olympiagold zu gewinnen – manches davon nicht nur einmal. Über zwölf Jahre lang zählte Weißflog konstant zur Weltspitze. Seit dem Karriereende betreibt der erfolgreichste deutsche Skispringer aller Zeiten in Oberwiesenthal ein Hotel mit Restaurant. Mit der „Schwäbischen Zeitung“hat der 58-Jährige zum Start seines Parade-Wettbewerbs gesprochen.
Herr Weißflog, die Vierschanzentournee ist immer noch der Höhepunkt der Skisprungsaison, auch wenn andere Sportarten im Winter Aufmerksamkeit abzweigen. Warum wird gerade die Tournee die Menschen immer faszinieren?
Es ist einfach eine Veranstaltung, die gewachsen ist und mit der viele Menschen etwas verbinden. Neujahr etwa mit der Familie auf der Couch sitzen und das Springen schauen, gehört in vielen Haushalten einfach dazu. Die Tournee ist Tradition. Mich sprechen auch heute noch Menschen an, die sagen: Mensch, Sie habe ich doch immer beim Neujahrsspringen gesehen. Und diese Gefühl trägt die Tour.
Gibt es etwas, das aus Ihrer Sicht verändert werden sollte, um modern zu bleiben und noch lange zu bestehen oder reicht schlicht die Faszination des Skispringens aus?
Die Frage ist ja immer, ob man etwas verändern muss. Den Druck sehe ich nicht. Im Fußball zählt trotz Eingriffe durch den Videobeweis und ähnliches auch weiterhin nur, wer mehr Tore schießt. Der Kern ist und bleibt gleich und das ist auch bei der Vierschanzentournee richtig. Zudem ist die Entwicklung ja auch bei uns nicht stehen geblieben. Früher hatten wir ein Starterfeld von über 100 Leuten im ersten Durchgang, dann im Finale 50. Jetzt sind wir bei 50 im ersten Durchgang und 30 im Finale. Videoweitenmessung und auch die Fernsehübertragung wurden ständig modernisiert. Hinzu kommt schon allein durch den K.o.-Modus, der ja nur bei der Vierschanzentournee stattfindet, etwas, das die Springen ab dem ersten Moment spannend macht. Die Tournee ist und bleibt modern.
Wie wichtig wäre es dennoch, dass ein Deutscher mal wieder um den Gesamtsieg mitspringt?
Es gibt so viele Nationen, die auf einen Gesamtsieg warten und wir gehören nun einmal seit 2002 dazu. Insofern wartet natürlich jeder drauf. Aber wir als Skisprungnation stehen mit dem Beginn in Oberstdorf auch immer unter einem speziellen Druck. Es gibt keine Nation, bei der die Erwartungshaltung so groß ist wie bei uns.
Sven Hannawald meint, dass auch mentale Aspekte für die Flaute bei der Tournee ausschlaggebend sind. „Die Erwartungen sind entsprechend groß und das Medieninteresse ungewöhnlich hoch. Und das zu ignorieren und die Sache einfach laufen zu lassen, fällt den deutschen Springern offenbar sehr schwer“, hat der Sieger von 2022 zuletzt gesagt. Er hat da also einen Punkt?
Auf alle Fälle. Das mediale Interesse und alles, was da noch mitreinfließt, hat immens zugenommen, seitdem wir oder auch Hannawald gesprungen sind. Und das ist alles etwas, das hemman
men kann. Der Startpunkt hält für uns also größere Probleme bereit als für andere Nationen. Oberstdorf ist also eher Belastung als Chance.
Die DSV-Athleten sind diesmal eher Außenseiter, wer ist Ihr Favorit?
Wenn ich auf den Gesamtstand des Weltcups schaue, dann komme ich an den Spitzenleuten auch für die Tournee nicht vorbei – Dawid Kubacki, Anze Lanisek, Stefan Kraft oder Halvor Egner Granerud.
Deutschlands Topspringer Karl Geiger hat die Generalprobe verpatzt, meinte, nun helfe nur die Flucht nach vorn. Wie optimistisch sind Sie?
In den letzten Jahren hatten wir bei der Generalprobe in Engelberg ja zumindest immer ein sehr gutes Ergebnis und das ließ dann immer die Hoffnungen wachsen. Jetzt ist Karl Geiger Siebter der Gesamtwertung und die Erwartungshaltung nicht ganz so groß. Allerdings muss man dazu sagen, dass er es von den Springen her überhaupt nicht verpatzt hat, sondern nur von der Landung. Das kann auch ein Vorteil sein. Vielleicht hat er bei diesen Sprüngen das gefunden, was ihm bisher gefehlt hat und kann da etwas Positives mitnehmen. Bei den vier Schanzen gibt es zudem häufig noch einen größeren Windeinfluss als früher. Für einen Sieg muss
also manchmal Glück haben.
auch einfach
Der letzte deutsche Gesamtsieg ist über 20 Jahre her, kann es in Deutschland überhaupt noch einmal so einen großen Skisprung-Hype geben wie in der HannawaldSchmitt-Ära?
Schwer, aber das erleben wir ja auch bei anderen Sportarten, die das einmal miterlebt haben. Ich vergleiche das immer mit Tennis und der Zeit um Boris Becker und Steffi Graf. Aktuell haben wir mit Alexander Zverev gerade einen Weltklassespieler, aber der Hype fehlt. Die Gesellschaft hat sich ja auch verändert, wir haben ringsum ganz andere Einflüsse und daher glaube ich da nicht mehr dran.
Warum fehlt der deutschen Sprungnation aktuell die Fülle an sehr guten Springern?
Dass wir Probleme haben, Kinder für die Sportart zu begeistern, ist ja nicht nur eine Schwierigkeit des Skispringens, aber bei uns kommt erschwerend noch einiges hinzu. Es wird oft gesagt, dass Golf eine elitäre Sportart sei, aber ich sehe wenig Sportarten, die elitärer sind als Skispringen. Was man als Eltern oder als Verein erst einmal an Geld auf den Tisch legen muss, um einem Kind den Start zu ermöglichen, ist immens – und da spreche ich noch nicht von den Kosten für
die Anlagen, die zum Glück noch von der breiten Masse getragen werden.
Der Klimawandel spielt ebenfalls mit rein, Springen auf grünen Matten dürften ihren Seltenheitswert verlieren. Wie sehr schmerzt es zu sehen, dass Ihr Element verschwindet und die Zukunft Ihrer Sportart auf dem Spiel steht?
Die Frage ist ja, ob wir gefährdet sind, denn wir haben ja nicht erst seit heute teilweise ein weißes Band in brauner Landschaft. Ich glaube, selbst die erste Tournee musste wegen Schneemangels verschoben werden. Die Matte wurde Ende der 1950er-Jahre erfunden und seitdem sind wir eigentlich schneeunabhängig. Insofern sollte uns das rein sportlich weniger Kopfzerbrechen bereiten als anderen Sportarten. Allerdings ist das, was wir aktuell machen, also Schnee auf den Aufsprunghang aufzubringen, unter den heutigen Umständen schon fast eine Farce. Da könnte man auch ehrlich sein und sagen, dass man sich die 200.000 Euro spart und vielleicht in den Nachwuchs steckt. Das ganze Prozedere ist ja eine reine Kosmetik für die Zuschauer, damit es noch nach Wintersport aussieht.
Sie stimmen also Norwegens Nationaltrainer Alexander Stöckl zu, der meinte, dass man das Label Wintersport durchaus ablegen könnte?
Tennis wurde früher auch viel draußen auf dem Sandplatz gespielt und mittlerweile spielen sie mehr in Hallen oder Stadien. Ich glaube, dass es einfach ein Wandel ist, der vollzogen werden und mit dem sich der Zuschauer anfreunden muss. Und vielleicht erfindet man dafür die weiße Plastikmatte für den Auslauf.
Ihr vierter Gesamtsieg liegt 26 Jahre zurück, wie oft werden Sie noch darauf angesprochen? Ihr Hotel dürfte ja ein Magnet für Fans sein.
Das stimmt und es ist immer wieder ein Fakt, das mich überrascht. Das liegt vielleicht auch daran, dass heute vieles überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Ich mache jeden Monat „Kaffeeklatsch mit Jens“und frage da oft: Wie heißt denn der letzte Olympiasieger im Skispringen und da gibt es dann oft großes Rätselraten, obwohl es dieses Jahr war. Die Frage ist, wie stark man heute selbst mit außergewöhnlichen Leistungen noch zu den Menschen durchdringt. Ich hatte da noch den Vorteil der nicht so großen Medienvielfalt.
Sie haben mit 32 Jahren Ihre Karriere beendet, waren da noch auf dem Höhepunkt, hatten kurz zuvor zum vierten Mal die Tournee gewonnen. Spielt das auch mit hinein?
Ich war nach meiner Laufbahn ja noch 15 Jahre im Fernsehen präsent. Gerade die Schmitt- und HannawaldZeit wäre ja eigentlich dazu da gewesen, um mich in Vergessenheit geraten zu lassen, aber ich war damals ja länger als die beiden deutschen Topspringer auf dem Bildschirm zu sehen. Das hat alles dazu beigetragen, dass sich die Menschen an mich erinnern. Heutzutage ist es zudem schwieriger, sehr lange in der Spitze dabei zu sein, auch wenn ein Geiger oder auch Eisenbichler gefühlt Ewigkeiten dabei sind. Oft schreibt man Karrieren heute zu schnell ab und sagt: Das war doch diese Saison schon wieder nichts. Da sage ich aktuell dann aber: Hört mal, die Jungs haben eine Olympiamedaille geholt. Das geht alles schnell unter.