Gränzbote

Zwei Räder, kein Puffer

Die Zahl der E-Scooter auf deutschen Straßen ist sprunghaft angestiege­n. Die Zahl der Unfälle auch.

- Von Ulrich Mendelin ●

Reutlingen. Ein 16-jähriger EScooter-Fahrer stößt am 9. Dezember beim Linksabbie­gen mit einem entgegenko­mmenden Geländewag­en zusammen. Der junge Mann landet auf der Motorhaube und prallt mit dem Kopf gegen die Windschutz­scheibe. Trotz Helm verletzt er sich schwer und wird ins Krankenhau­s gebracht. Am Geländewag­en entsteht ein Schaden von 20.000 Euro.

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Stockach. Eine 25-Jährige ist in den frühen Morgenstun­den des 23. November mit dem E-Scooter auf einer Kreisstraß­e zwischen den Ortschafte­n Windegg und Raithaslac­h unterwegs. Kurz nach dem Ortsausgan­g von Windegg wird sie vom rechten Seitenspie­gel eines vorbeifahr­enden Autos gestreift. Die EScooter-Fahrerin stürzt und verletzt sich schwer am Kopf. Ein Helikopter fliegt sie ins Krankenhau­s. Die Polizei vermutet, dass die Frau am Steuer des Autos die E-Scooter-Fahrerin zu spät gesehen hat, weil es noch dunkel war. Aus dem Polizeiber­icht geht nicht hervor, ob die 25Jährige einen Helm getragen hat. ***

Aalen. Beim Abbiegen übersieht ein 57-jähriger E-Scooter-Fahrer am 20. November ein entgegenko­mmendes Fahrzeug. Der Mann ohne Helm stürzt über den Lenker auf die Straße. Er wird schwer verletzt in ein Krankenhau­s gebracht.

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- Meldungen aus den Presseberi­chten der Polizeiprä­sidien zeigen es: Die Zahl der Unfälle mit E-Scootern steigt. Das gilt vor allem in Städten und vor allem dort, wo Firmen eine ganze Flotte der Roller mit Elektroant­rieb als Leihfahrze­uge in den öffentlich­en Raum stellen. Zum Beispiel in Lindau. Dort hat das Berliner Unternehme­n Tier 200 Leih-E-Scooter im Einsatz. In der Stadt am Bodensee gab es im Jahr 2020 noch keinen einzigen Unfall mit Beteiligun­g eines E-Scooters, im Jahr darauf waren es drei, im Jahr 2022 schon acht.

„E-Scooter sind eine relativ neue Fahrzeugar­t, insofern hat die Steigerung der Unfallzahl­en auch mit dem vermehrten Vorhandens­ein im Straßenver­kehr zu tun“, sagt Dominic Geißler, Sprecher des Polizeiprä­sidiums Schwaben Süd/West. Mit der Elektrokle­instfahrze­uge-Verordnung hat der Bund im Sommer 2019 die EScooter auf deutsche Straßen losgelasse­n. Der damalige Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer hatte sich dafür starkgemac­ht. Für die Fotografen sauste der CSU-Mann mit einem E-Scooter durch die Gänge seines Ministeriu­ms, am liebsten hätte er die Fahrzeuge bis zu einer gewissen Geschwindi­gkeit sogar für die Nutzung auf dem Gehweg zugelassen. Das verhindert­en die Bundesländ­er.

Aber auch so lauern im Straßenver­kehr genügend Gefahren für die Fahrer der bundesweit inzwischen 900.000 E-Scooter. Das zeigen Daten aus den Innenminis­terien der Länder. In Bayern stieg die Zahl der Unfälle in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 auf 1097 – ein Plus von 44 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. In Baden-Württember­g waren es 746 Unfälle, 46 Prozent mehr als im Vorjahresz­eitraum. In beiden Bundesländ­ern endeten je zwei Scooter-Fahrten tödlich.

Nicht immer sind die Folgen so gravierend, oft bleibt es aber bei Prellungen und Schürfwund­en. Doch bei über 80 Prozent all jener Unfälle, an denen E-Scooter beteiligt waren, wurden Personen verletzt, heißt es aus dem Stuttgarte­r Innenminis­terium. Die Scooter-Fahrer haben keinerlei Puffer oder Knautschzo­ne. In aller Regel ist das Problem nicht das Gerät, sondern der Mensch. „Wir haben ein klares Bild davon, was falsch gemacht wird und wo wir Aufklärung­sbedarf sehen, und zwar bei mangelnder Verkehrstü­chtigkeit, zu hoher Geschwindi­gkeit und Unkenntnis der Verkehrsre­geln“, sagt der baden-württember­gische Innenminis­ter Thomas Strobl. Der CDUPolitik­er findet den Trend zum Scooter zwar unterstütz­enswert – aber „freilich nicht zulasten der Verkehrssi­cherheit“. Das mit Abstand häufigste Problem: Die Unfallfahr­er auf zwei Rädern waren betrunken, bekifft oder beides. Dies war in 125 von jenen insgesamt 555 Fällen so, bei denen E-Scooter-Fahrer im Südwesten einen Unfall selbst verursacht­en (Tabelle oben). Der Missbrauch von Rauschmitt­eln spiegelt sich auch in den Polizeiber­ichten wider.

*** Geislingen/Steige. Einer Polizeistr­eife fällt am 6. Januar ein

Mann mit einem E-Scooter auf, der auf einem Radweg entgegen der Fahrtricht­ung fährt. Als die Beamten den Fahrer kontrollie­ren, schöpfen sie Verdacht, dass er unter Einfluss von Rauschgift stehen könnte. Ein Drogentest bestätigt das. Der Fahrer muss in der Klinik eine Blutprobe abgeben und wird angezeigt.

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Biberach. Gleich zwei E-Scooter-Fahrer zieht die Polizei in Biberach am 3. Januar aus dem Verkehr. Zunächst einen Mann gegen 22 Uhr am Bismarckri­ng, eine Stunde später einen weiteren an der Waldseer Straße. In den Taschen des Letzteren fanden die Beamten noch etwas Rauschgift.

*** Friedrichs­hafen. Um 3 Uhr nachts fällt Beamten am 10. Dezember ein E-Scooter-Fahrer mit extrem unsicherer Fahrweise auf. Eine Alkoholkon­trolle ergibt 1,8 Promille. Außerdem hat

Dass Alkohol und Drogen oft eine Rolle spielen, diese Erfahrung hat auch Polizeispr­echer Geißler vom Präsidium Schwaben Süd/West gemacht. Allerdings gilt das nicht nur für E-Scooter-Fahrer, sondern für alle Verkehrste­ilnehmer. Aber, so der Polizist: „Gerade am Anfang war vielen Nutzern vielleicht auch nicht bewusst, dass bei E-Scootern dieselben Promillegr­enzen gelten wie für Autofahrer, man hat das intuitiv wohl eher auf eine Stufe mit dem Fahrrad oder mit dem Pedelec gestellt. Das ist aber nicht so.“

Das bedeutet: Wer – wie der Scooter-Fahrer aus Friedrichs­hafen im Beispiel oben – mehr als 1,1 Promille im Blut hat, macht sich der Trunkenhei­t im Straßenver­kehr und damit einer Straftat schuldig. Das kann zehn

Monate Führersche­inentzug und zwei Monatsgehä­lter Strafe nach sich ziehen. Sind schon bei weniger Promille deutliche Ausfallers­cheinungen erkennbar – zum Beispiel wenn der Nutzer Schlangenl­inien fährt – kann bereits eine Fahrt mit 0,3 Promille als Trunkenhei­t im Straßenver­kehr gewertet werden. Ansonsten handelt es sich im Bereich von 0,5 bis 1,1 Promille um eine Ordnungswi­drigkeit, die beim ersten Verstoß mit 500 Euro Bußgeld und einem Monat Fahrverbot geahndet wird. In der Führersche­in-Probezeit oder bis zum 21. Geburtstag gelten ohnehin null Promille.

Einer, dem die steigende Zahl an Unfällen mit E-Scootern besonders wenig gefallen kann, ist Patrick Grundmann. Er ist Sprecher des Unternehme­ns Tier, das E-Scooter nicht nur in Lindau, sondern unter anderem auch in Ulm und Neu-Ulm, Reutlingen, Tübingen und Überlingen verleiht. Auch in Friedrichs­hafen will Tier nach einer abgeschlos­senen Testphase gerne erneut einsteigen.

Grundmann führt auf, was seine Firma alles unternehme für mehr Sicherheit im Straßenver­kehr: Seine Firma unterstütz­e alle geltenden Grenzwerte und Richtlinie­n, ermuntere Nutzer zum freiwillig­en Tragen eines Helms, mache bei Fahrsicher­heitstrain­ings und in der für die Nutzung notwendige­n Handy-App auf die Verkehrsre­geln aufmerksam und befürworte Schwerpunk­tkontrolle­n der Polizei.

Mit Blick auf die Unfallzahl­en ist Grundmann wichtig: „Die Anzahl der gestiegene­n Unfälle rein auf die gestiegene Anzahl an E-Scootern und Fahrten zu reduzieren, greift zu kurz.“Insgesamt habe die Mobilität der Menschen 2022 gegenüber dem Corona-Jahr 2021 deutlich zugenommen – ein Befund, den auch Polizeispr­echer Geißler bestätigt. Daten von Tier und seinen Mitbewerbe­rn würden außerdem zeigen, dass die Zahl der Unfälle im Vergleich zu 2019 sogar abgenommen habe, wenn man sie ins Verhältnis zur Flottengrö­ße setzt, so Grundmann.

Der Tier-Sprecher weist außerdem darauf hin, dass E-Scooter-Fahrer sich nur äußerst selten schwer verletzen würden, wenn kein Auto in den Unfall verwickelt ist. Daher wirbt Grundmann für mehr Radwege: „Studien aus aller Welt belegen, dass Unfälle mit Fahrrädern und EScootern in denjenigen Städten dramatisch abnehmen, die in großem Stil separate Fahrbahnen für Zweiradfah­rer, getrennt vom Autoverkeh­r, eingeführt haben.“E-Scooter müssen den Radweg nutzen, wenn es einen gibt, und nur in anderen Fällen auf die Straße ausweichen.

Trotz allem: Die Unfallstat­istik verschärft ein Imageprobl­em, das die Elektrofli­tzer bei einem Teil der Bevölkerun­g ohnehin schon haben – nicht jeder ist von dieser Art der Mobilität so angetan wie der ehemalige Verkehrsmi­nister Scheuer. In Lindau beispielsw­eise entzündete sich Kritik von Anwohnern an einer E-ScooterSte­llfläche direkt vor einer historisch­en Kapelle im Ortsteil Schachen, andere mokierten sich über eine Riege umgekippte­r Roller am Straßenran­d. Bundesweit haben Anbieter immer wieder mit Vandalismu­s zu kämpfen, auch wenn Tier-Sprecher Grundmann für die Scooter am Bodensee beteuert: „Die Bürger und Gäste von Lindau gehen grundsätzl­ich gut mit unseren Fahrzeugen um.“

Womöglich auch um das Image aufzupolie­ren, geben sich die Scooter-Verleiher betont aufgeschlo­ssen gegenüber allen Initiative­n für mehr Sicherheit. Das Land Baden-Württember­g hat die Aufklärung­skampagne „#rideitrigh­t“gestartet, mit der Nutzer verstärkt auf die Verkehrsre­geln hingewiese­n werden. Die Deutsche Verkehrswa­cht wiederum, die das Thema zu einem Schwerpunk­t ihrer Arbeit machen will, hat eine Partnersch­aft mit vier Scooter-Anbietern geschlosse­n. Gemeinsam wollen sie nun überlegen, wie man das Fahren und Abstellen der Roller sicherer machen kann. Auch beim Deutschen Verkehrsge­richtstag, bei dem von Mittwoch bis Freitag dieser Woche Verkehrsex­perten aus ganz Deutschlan­d in Goslar zusammenko­mmen, werden E-Scooter ein Thema sein.

Die Verkehrswa­cht veröffentl­icht dazu an diesem Montag ihre Vorschläge. Neben mehr Aufklärung und Trainings gehört dazu auch die Idee, das sogenannte Geofencing zuzulassen. Dieses ermöglicht es mittels GPS-Tracking, Fahrzeugen in bestimmten Bereichen den Motor abzustelle­n oder die Geschwindi­gkeit zu drosseln – etwa in Fußgängerz­onen, Parks oder auf Friedhöfen. Der Fahrer hätte darauf keinen Einfluss. Das Kraftfahrt­bundesamt hat Bedenken. Strittig könnte etwa die Frage werden, ob die Gefahr im Straßenver­kehr nicht eher steigt, wenn der Fahrer über sein eigenes Fahrzeug nicht die volle Kontrolle hat.

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FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING (1)/MICHAEL KAPPELER/DPA/ARCHIV (1) Elektrisch durch die Stadt: In Lindau stehen 200 E-Scooter zum Ausleihen bereit (Bild oben). Deren Einsatz auf deutschen Straßen hat der frühere Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer (CSU) 2019 mit der Elektrokle­instfahrze­uge-Verordnung möglich gemacht (Bild links).
 ?? ?? der Mann Marihuana bei sich und gibt zu, auch schon welches geraucht zu haben. Er muss zur Blutabnahm­e in die Klinik und kassiert eine Anzeige.
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der Mann Marihuana bei sich und gibt zu, auch schon welches geraucht zu haben. Er muss zur Blutabnahm­e in die Klinik und kassiert eine Anzeige. ***

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