Theo Waigel zu Gast bei der Kirche
Der ehemalige Finanzminister fordert Zusammenhalt in Europa und auch den Mut, Fehler einzugestehen
- Die Weltpolitik macht auch vor Tuttlingen nicht Halt, das war beim Ökumenischen Neujahrsempfang der Kirchen im Kreis Tuttlingen zu spüren. Der Krieg in der Ukraine beeinflusst den Ausblick auf dieses Jahr, im Großen wie im Kleinen. Passend vielleicht, dass die Kirchen einen Redner gewonnen hatten, der lange in der Weltpolitik zuhause war. Theo Waigel, ehemaliger Finanzminister der CSU, sprach am Samstagvormittag im Evangelischen Gemeindehaus in Tuttlingen. Wobei von „ehemalig“wenig zu spüren war.
Noch immer sei der 83-Jährige ein Vollblut-Politiker, das höre man, sagte der katholische Dekan Matthias Koschar. Entsprechend in die Vollen ging Waigel in seinem Vortrag: „Unsere Welt ist gespalten, Russland wird von einem Dämon regiert, China wird Weltmacht, der Nahe Osten ist ein Pulverfass“, beschrieb er die Lage aus seiner Sicht.
Noch gut in Erinnerung sei ihm die Rede von Putin 2001 im Bundestag. Und heute? Habe er eine Blutspur hinterlassen, sagte Waigel. Georgien, Tschetschenien, die Krim. Aber, so Waigel, „befreien wir uns davon, dass der Westen eine Mitschuld am Ukraine-Krieg trägt“. Sämtliche Abkommen seien im Wissen und in Absprache mit Russland getroffen worden.
Die Herausforderung für Deutschland sei groß, sagte Waigel, doch Deutschland habe schon viele Krisen gestemmt. Er holte aus über den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, die Auf- und Abrüstung im Kalten Krieg, die Kosten der Wiedervereinigung. Deutschland müsse Verantwortung übernehmen, ob es wolle oder nicht, forderte Waigel, und Europa müsse weiter zusammenzustehen. „Ich hab mehr Ärger gehabt mit Europa als jeder von Ihnen“, sagte Waigel, „und trotzdem ist es das tollste Projekt, das wir auf den Weg gebracht haben.“
Zudem müsse „der Versuch gemacht werden, mit China zu kooperieren. Wir müssen die Mitte finden zwischen realistischer und idealistischer Außenpolitik.“
Er sei immer auch Christ in der Politik gewesen, betonte Waigel zum Schluss. In allem Handeln müsse die Bereitschaft zum Miteinander da sein und auch der Mut, Fehler einzugestehen und zur eigenen Unvollkommenheit zu stehen. Hinzusehen, hinzugehen und sich stark zu machen für andere – diese Botschaft der diesjährigen Jahreslosung der Evangelischen Kirche hob Johannes Thiemann, Spaichinger Pfarrer und stellvertretender
Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Tuttlingen, hervor. „Du bist ein Gott, der mich sieht“, lautet sie. Auch wenn man momentan eher geneigt sei, zu glauben, dass Gott wegsehe angesichts der Krisen, schaue er auch genau hin, meinte Thiemann, und fragte: „Lässt er sich blenden oder sieht er mein Innerstes?“
Dass Gott für viele nicht mehr so relevant ist, wurde durch viele Kirchenaustritte in den vergangenen Jahren deutlich. Die Mehrzahl aller Bürgerinnen und Bürger in Tuttlingen sei kein Mitglied mehr in einer der beiden großen christlichen Kirchen, sagte Dekan Koschar.
Er wisse, dass die Kirche auch ein Stückweit selber daran schuld sei. Dennoch mache er sich keine Sorgen über den Fortbestand: „Unser Chef und Gründer hat uns eine Ewigkeitsklausel bescheinigt.“
Um als Kirche weiter stark zu sein, gehe es aus seiner Sicht weniger um neue Konzepte. Es gehe eher darum, sich auf den Kern des Glaubens zu besinnen: Nächstenliebe,
das christliche Wertefundament. Denn sonst bekämen andere Ideologien wieder Zuspruch. Was aus Sicht Koschars auch zum Glauben gehört: „Fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen“– wie eben bei diesem Neujahrsempfang.
Und wie kam es nun, dass Theo Waigel in Tuttlingen seine Aufwartung machte? Waigel verriet es selbst: Volker Kauder, bis 2021 CDUBundestagsabgeordneter des Wahlkreises, habe ihm nach einem Auftritt bei Markus Lanz eine lobende E-Mail geschrieben.
Eine „Sternstunde“, habe Kauder den Auftritt genannt, sagte Waigel – und das verbunden mit der Anfrage, ob er denn nach Tuttlingen kommen wolle. Nun denn: Waigel wollte.
Er brachte das Cellisten-Ehepaar Hyun-Jung und Julius Berger mit, das neben dem Tuttlinger Chor 5 noch einen musikalischen Programmpunkt beisteuerte. Waigel verriet auch, dass seine Frau und er mit den Musikern an den Bodensee weiterreisen würden: Ein Besuch bei Martin Walser stehe an.
„Ich hab mehr Ärger gehabt mit Europa als jeder von Ihnen und trotzdem ist es das tollste Projekt, das wir auf den Weg gebracht haben“, sagt Theo Waigel (CSU)), ehemaliger Bundesfinanzminister beim Neujahrsempfang der Kirchen im Kreis Tuttlingen.