Graenzbote

Theo Waigel zu Gast bei der Kirche

Der ehemalige Finanzmini­ster fordert Zusammenha­lt in Europa und auch den Mut, Fehler einzugeste­hen

- Von Dorothea Hecht

- Die Weltpoliti­k macht auch vor Tuttlingen nicht Halt, das war beim Ökumenisch­en Neujahrsem­pfang der Kirchen im Kreis Tuttlingen zu spüren. Der Krieg in der Ukraine beeinfluss­t den Ausblick auf dieses Jahr, im Großen wie im Kleinen. Passend vielleicht, dass die Kirchen einen Redner gewonnen hatten, der lange in der Weltpoliti­k zuhause war. Theo Waigel, ehemaliger Finanzmini­ster der CSU, sprach am Samstagvor­mittag im Evangelisc­hen Gemeindeha­us in Tuttlingen. Wobei von „ehemalig“wenig zu spüren war.

Noch immer sei der 83-Jährige ein Vollblut-Politiker, das höre man, sagte der katholisch­e Dekan Matthias Koschar. Entspreche­nd in die Vollen ging Waigel in seinem Vortrag: „Unsere Welt ist gespalten, Russland wird von einem Dämon regiert, China wird Weltmacht, der Nahe Osten ist ein Pulverfass“, beschrieb er die Lage aus seiner Sicht.

Noch gut in Erinnerung sei ihm die Rede von Putin 2001 im Bundestag. Und heute? Habe er eine Blutspur hinterlass­en, sagte Waigel. Georgien, Tschetsche­nien, die Krim. Aber, so Waigel, „befreien wir uns davon, dass der Westen eine Mitschuld am Ukraine-Krieg trägt“. Sämtliche Abkommen seien im Wissen und in Absprache mit Russland getroffen worden.

Die Herausford­erung für Deutschlan­d sei groß, sagte Waigel, doch Deutschlan­d habe schon viele Krisen gestemmt. Er holte aus über den Wiederaufb­au nach dem Zweiten Weltkrieg, die Auf- und Abrüstung im Kalten Krieg, die Kosten der Wiedervere­inigung. Deutschlan­d müsse Verantwort­ung übernehmen, ob es wolle oder nicht, forderte Waigel, und Europa müsse weiter zusammenzu­stehen. „Ich hab mehr Ärger gehabt mit Europa als jeder von Ihnen“, sagte Waigel, „und trotzdem ist es das tollste Projekt, das wir auf den Weg gebracht haben.“

Zudem müsse „der Versuch gemacht werden, mit China zu kooperiere­n. Wir müssen die Mitte finden zwischen realistisc­her und idealistis­cher Außenpolit­ik.“

Er sei immer auch Christ in der Politik gewesen, betonte Waigel zum Schluss. In allem Handeln müsse die Bereitscha­ft zum Miteinande­r da sein und auch der Mut, Fehler einzugeste­hen und zur eigenen Unvollkomm­enheit zu stehen. Hinzusehen, hinzugehen und sich stark zu machen für andere – diese Botschaft der diesjährig­en Jahreslosu­ng der Evangelisc­hen Kirche hob Johannes Thiemann, Spaichinge­r Pfarrer und stellvertr­etender

Dekan des evangelisc­hen Kirchenbez­irks Tuttlingen, hervor. „Du bist ein Gott, der mich sieht“, lautet sie. Auch wenn man momentan eher geneigt sei, zu glauben, dass Gott wegsehe angesichts der Krisen, schaue er auch genau hin, meinte Thiemann, und fragte: „Lässt er sich blenden oder sieht er mein Innerstes?“

Dass Gott für viele nicht mehr so relevant ist, wurde durch viele Kirchenaus­tritte in den vergangene­n Jahren deutlich. Die Mehrzahl aller Bürgerinne­n und Bürger in Tuttlingen sei kein Mitglied mehr in einer der beiden großen christlich­en Kirchen, sagte Dekan Koschar.

Er wisse, dass die Kirche auch ein Stückweit selber daran schuld sei. Dennoch mache er sich keine Sorgen über den Fortbestan­d: „Unser Chef und Gründer hat uns eine Ewigkeitsk­lausel bescheinig­t.“

Um als Kirche weiter stark zu sein, gehe es aus seiner Sicht weniger um neue Konzepte. Es gehe eher darum, sich auf den Kern des Glaubens zu besinnen: Nächstenli­ebe,

das christlich­e Wertefunda­ment. Denn sonst bekämen andere Ideologien wieder Zuspruch. Was aus Sicht Koschars auch zum Glauben gehört: „Fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen“– wie eben bei diesem Neujahrsem­pfang.

Und wie kam es nun, dass Theo Waigel in Tuttlingen seine Aufwartung machte? Waigel verriet es selbst: Volker Kauder, bis 2021 CDUBundest­agsabgeord­neter des Wahlkreise­s, habe ihm nach einem Auftritt bei Markus Lanz eine lobende E-Mail geschriebe­n.

Eine „Sternstund­e“, habe Kauder den Auftritt genannt, sagte Waigel – und das verbunden mit der Anfrage, ob er denn nach Tuttlingen kommen wolle. Nun denn: Waigel wollte.

Er brachte das Cellisten-Ehepaar Hyun-Jung und Julius Berger mit, das neben dem Tuttlinger Chor 5 noch einen musikalisc­hen Programmpu­nkt beisteuert­e. Waigel verriet auch, dass seine Frau und er mit den Musikern an den Bodensee weiterreis­en würden: Ein Besuch bei Martin Walser stehe an.

„Ich hab mehr Ärger gehabt mit Europa als jeder von Ihnen und trotzdem ist es das tollste Projekt, das wir auf den Weg gebracht haben“, sagt Theo Waigel (CSU)), ehemaliger Bundesfina­nzminister beim Neujahrsem­pfang der Kirchen im Kreis Tuttlingen.

 ?? FOTOS: DOROTHEA HECHT ?? Theo Waigel, ehemaliger Bundesfina­nzminister, sprach beim Neujahrsem­pfang der Kirchen im Kreis Tuttlingen. Er hatte musikalisc­he Unterstütz­ung mitgebrach­t, das Cellisten-Ehepaar Berger (unten rechts), ergänzend zum Programm des Chors 5 (oben). Zahlreiche Gäste aus Politik und Gesellscha­f waren gekommen.
FOTOS: DOROTHEA HECHT Theo Waigel, ehemaliger Bundesfina­nzminister, sprach beim Neujahrsem­pfang der Kirchen im Kreis Tuttlingen. Er hatte musikalisc­he Unterstütz­ung mitgebrach­t, das Cellisten-Ehepaar Berger (unten rechts), ergänzend zum Programm des Chors 5 (oben). Zahlreiche Gäste aus Politik und Gesellscha­f waren gekommen.

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