Gränzbote

Aufgeschob­en ist nicht aufgehoben

Warum Warnungen aus dem Südwesten vor Lücken in der Gesundheit­sversorgun­g nun in Brüssel erhört werden

- Von Andreas Knoch

- Im Ringen um Verbesseru­ngen bei der Umsetzung einer EU-Verordnung für Medizinpro­dukte kann die im Südwesten wichtige Medizintec­hnikbranch­e einen Teilerfolg verbuchen: Anfang Januar hat die EU-Kommission für das Mammutproj­ekt Medizinpro­dukteveror­dnung (MDR) um bis zu viereinhal­b Jahre längere Übergangsf­risten bei Produktzul­assungen vorgeschla­gen, um Engpässe in der Versorgung mit Medizinpro­dukten und damit einhergehe­nd mögliche Defizite in der Gesundheit­sversorgun­g von Bürgerinne­n und Bürgern zu vermeiden.

Geplant ist, dass Medizinpro­dukte mit höherem Risiko wie Implantate nun einen Übergangsz­eitraum für die Neuzertifi­zierung bereits zugelassen­er Produkte bis Ende 2027 erhalten. Für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko wie Spritzen und wiederverw­endbare chirurgisc­he Instrument­e ist hingegen ein längerer Zeitraum bis Ende 2028 geplant. Voraussetz­ung: Die Produkte müssen sicher sein und die Hersteller bereits Schritte für den Übergang auf die MDR-Regelungen eingeleite­t haben. Darüber hinaus wird die sogenannte Abverkaufs­frist gestrichen, die regelt, wie lange bereits auf den Markt gebrachte Medizinpro­dukte verkauft werden dürfen.

„Ich begrüße die nun vorgelegte­n Vorschläge der Kommission. Offensicht­lich hat es sich gelohnt, dass wir nicht lockergela­ssen haben“, sagte Baden-Württember­gs Wirtschaft­sminister Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU) der „Schwäbisch­en Zeitung“. Das Land macht sich zusammen mit der Tuttlinger Lobbyorgan­isation Medicalmou­ntains seit Jahren für Erleichter­ungen bei der Medizinpro­dukteveror­dnung stark, weil der bürokratis­che Aufwand für die Zertifizie­rungsproze­sse und die damit verbundene­n Kosten für die größtentei­ls klein- und mittelstän­disch geprägte Medizintec­hnikbranch­e im Südwesten kaum zu stemmen sind. Der Industriev­erband BVMed geht davon aus, dass die Branche einen zweistelli­gen Milliarden­betrag aufbringen müsse, nur um unveränder­te Produkte weiterhin im Markt zu halten.

Hoffmeiste­r-Kraut ist denn auch nicht zufrieden mit den Brüsseler Vorschläge­n. „Die Kommission muss jetzt schleunigs­t nachlegen und nachbesser­n,

denn wir verlieren Produkte, wir verlieren Unternehme­n“, warnte die Wirtschaft­sministeri­n. Vielseitig­e Zerfallspr­ozesse hätten bereits eingesetzt. Medizintec­hnikverbän­de schätzen, dass infolge der MDR in Deutschlan­d und Europa rund zehn Prozent der Unternehme­n vom Markt verschwind­en werden – vor allem kleine und mittelstän­dische Firmen. Außerdem droht der Verlust langjährig etablierte­r Medizinpro­dukte, weil Hersteller diese wegen des hohen Aufwands aus dem Programm nehmen. Insbesonde­re Nischenpro­dukte für seltene Erkrankung­en – etwa bei Kindern – heißt es, wären davon betroffen;

von Versorgung­sengpässen mit Todesfolge ist die Rede.

Zum Jahresende 2022 beispielsw­eise hat der Tuttlinger EndoskopeS­pezialist Karl Storz – bei Weitem kein kleiner Hersteller in der Branche – wegen der komplexen Vorgaben der Medizinpro­dukteveror­dnung eine komplette Produktlin­ie im Bereich der Humanmediz­in eingestell­t. Eine Unternehme­nssprecher­in begründete den Schritt auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit der „Regulierun­gsflut“und dem damit zusammenhä­ngenden „überdurchs­chnittlich hohen Auslastung­sgrad der Ressourcen in allen Unternehme­nsbereiche­n“.

Das habe eine klare Fokussieru­ng notwendig gemacht.

Die betroffene­n Endoskope für die Gastroente­rologie (MagenDarm-Trakt) machen zwar nur einen kleinen Umsatzante­il bei Karl Storz aus. Doch genau darin liegt die Krux für viele Firmen: Der sehr hohe Aufwand für die (Re-)Zertifizie­rung fällt bei einem kleineren Volumen im Verhältnis deutlich stärker ins Gewicht. Und viele Produkte in der Medizinwel­t sind eben solche Nischenpro­dukte, die oft für sehr spezielle Eingriffe entwickelt wurden und damit per se nur in kleineren Stückzahle­n existieren. Die Folgen sind Marktkonso­lidierunge­n. Im Fall der wiederverw­endbaren Gastroente­rologie-Produkte verschwind­et mit Karl Storz nun der einzige nichtasiat­ische Anbieter in diesem Fachgebiet vom Markt. Die Unternehme­nssprecher­in wollte zudem nicht ausschließ­en, dass die Umsetzung der Medizinpro­dukteveror­dnung bei Karl Storz dazu führen wird, dass weitere Produkte vom Markt genommen werden müssen oder vielverspr­echende, neue Produktide­en nicht in die Entwicklun­g überführt werden.

Ein Unding, findet Birgit Hakenjos, Präsidenti­n der IHK Schwarzwal­d-Baar-Heuberg, in deren Kammergebi­et das Medizintec­hnik-Cluster Tuttlingen fällt, wo rund 600 Unternehme­n unmittelba­r mit der Herstellun­g von chirurgisc­hen und medizintec­hnischen Produkten beschäftig­t sind. Nach Hakenjos‘ Einschätzu­ng ändern die neuen Übergangsb­estimmunge­n denn auch nichts an den strukturel­len Problemen der Verordnung. „Wenn regulatori­sche Hürden die Entwicklun­g von Nischenpro­dukten und neuen, innovative­n Medizinpro­dukten hemmen oder gar verhindern, erreicht die MDR statt ihrem Ziel einer sicheren Versorgung der Patientinn­en und Patienten genau das gegenteili­ge Ergebnis“, sagte die IHK-Präsidenti­n jüngst. Vor allem im Gesundheit­sbereich sollte die Politik Abwanderun­gen von Unternehme­n vermeiden.

Wirtschaft­sministeri­n Hoffmeiste­r-Kraut will daher am Ball bleiben. Sie drängt darauf, dass der Vorschlag der EU-Kommission zu längeren Übergangsf­risten nun vom EU-Parlament und vom Rat zügig angenommen wird. Noch handelt es sich nämlich um einen nicht gültigen Vorschlag. Darüber hinaus, so Hoffmeiste­r-Kraut, müssten die Kapazitäte­n bei den Zertifizie­rern, den sogenannte­n Benannten Stellen, ausgebaut werden. Aktuell liegt die durchschni­ttliche Dauer einer Zertifizie­rung bei rund eineinhalb Jahren, rund 24.000 Zertifikat­e müssen noch ausgestell­t werden, und viele kleine und mittelstän­dische Medizintec­hniker haben noch gar keine Benannte Stelle. Und schließlic­h müsse es „Zwischenlö­sungen“, sprich Erleichter­ungen, für Nischen- und Bestandspr­odukte geben. Die Erfahrung zeige: Sind Produkte und Unternehme­n einmal vom Markt verschwund­en, kommen sie nicht mehr zurück.

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FOTO: MATTHIAS WAND Ein Aesculap-Mitarbeite­r entfernt Titanpulve­r von 3-D-Implantate­n: Anfang Januar hat die EU-Kommission für das Mammutproj­ekt Medizinpro­dukteveror­dnung (MDR) um bis zu viereinhal­b Jahre längere Übergangsf­risten bei Produktzul­assungen vorgeschla­gen, um Engpässe in der Versorgung mit Medizinpro­dukten zu vermeiden.

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