Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Warum Warnungen aus dem Südwesten vor Lücken in der Gesundheitsversorgung nun in Brüssel erhört werden
- Im Ringen um Verbesserungen bei der Umsetzung einer EU-Verordnung für Medizinprodukte kann die im Südwesten wichtige Medizintechnikbranche einen Teilerfolg verbuchen: Anfang Januar hat die EU-Kommission für das Mammutprojekt Medizinprodukteverordnung (MDR) um bis zu viereinhalb Jahre längere Übergangsfristen bei Produktzulassungen vorgeschlagen, um Engpässe in der Versorgung mit Medizinprodukten und damit einhergehend mögliche Defizite in der Gesundheitsversorgung von Bürgerinnen und Bürgern zu vermeiden.
Geplant ist, dass Medizinprodukte mit höherem Risiko wie Implantate nun einen Übergangszeitraum für die Neuzertifizierung bereits zugelassener Produkte bis Ende 2027 erhalten. Für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko wie Spritzen und wiederverwendbare chirurgische Instrumente ist hingegen ein längerer Zeitraum bis Ende 2028 geplant. Voraussetzung: Die Produkte müssen sicher sein und die Hersteller bereits Schritte für den Übergang auf die MDR-Regelungen eingeleitet haben. Darüber hinaus wird die sogenannte Abverkaufsfrist gestrichen, die regelt, wie lange bereits auf den Markt gebrachte Medizinprodukte verkauft werden dürfen.
„Ich begrüße die nun vorgelegten Vorschläge der Kommission. Offensichtlich hat es sich gelohnt, dass wir nicht lockergelassen haben“, sagte Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) der „Schwäbischen Zeitung“. Das Land macht sich zusammen mit der Tuttlinger Lobbyorganisation Medicalmountains seit Jahren für Erleichterungen bei der Medizinprodukteverordnung stark, weil der bürokratische Aufwand für die Zertifizierungsprozesse und die damit verbundenen Kosten für die größtenteils klein- und mittelständisch geprägte Medizintechnikbranche im Südwesten kaum zu stemmen sind. Der Industrieverband BVMed geht davon aus, dass die Branche einen zweistelligen Milliardenbetrag aufbringen müsse, nur um unveränderte Produkte weiterhin im Markt zu halten.
Hoffmeister-Kraut ist denn auch nicht zufrieden mit den Brüsseler Vorschlägen. „Die Kommission muss jetzt schleunigst nachlegen und nachbessern,
denn wir verlieren Produkte, wir verlieren Unternehmen“, warnte die Wirtschaftsministerin. Vielseitige Zerfallsprozesse hätten bereits eingesetzt. Medizintechnikverbände schätzen, dass infolge der MDR in Deutschland und Europa rund zehn Prozent der Unternehmen vom Markt verschwinden werden – vor allem kleine und mittelständische Firmen. Außerdem droht der Verlust langjährig etablierter Medizinprodukte, weil Hersteller diese wegen des hohen Aufwands aus dem Programm nehmen. Insbesondere Nischenprodukte für seltene Erkrankungen – etwa bei Kindern – heißt es, wären davon betroffen;
von Versorgungsengpässen mit Todesfolge ist die Rede.
Zum Jahresende 2022 beispielsweise hat der Tuttlinger EndoskopeSpezialist Karl Storz – bei Weitem kein kleiner Hersteller in der Branche – wegen der komplexen Vorgaben der Medizinprodukteverordnung eine komplette Produktlinie im Bereich der Humanmedizin eingestellt. Eine Unternehmenssprecherin begründete den Schritt auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit der „Regulierungsflut“und dem damit zusammenhängenden „überdurchschnittlich hohen Auslastungsgrad der Ressourcen in allen Unternehmensbereichen“.
Das habe eine klare Fokussierung notwendig gemacht.
Die betroffenen Endoskope für die Gastroenterologie (MagenDarm-Trakt) machen zwar nur einen kleinen Umsatzanteil bei Karl Storz aus. Doch genau darin liegt die Krux für viele Firmen: Der sehr hohe Aufwand für die (Re-)Zertifizierung fällt bei einem kleineren Volumen im Verhältnis deutlich stärker ins Gewicht. Und viele Produkte in der Medizinwelt sind eben solche Nischenprodukte, die oft für sehr spezielle Eingriffe entwickelt wurden und damit per se nur in kleineren Stückzahlen existieren. Die Folgen sind Marktkonsolidierungen. Im Fall der wiederverwendbaren Gastroenterologie-Produkte verschwindet mit Karl Storz nun der einzige nichtasiatische Anbieter in diesem Fachgebiet vom Markt. Die Unternehmenssprecherin wollte zudem nicht ausschließen, dass die Umsetzung der Medizinprodukteverordnung bei Karl Storz dazu führen wird, dass weitere Produkte vom Markt genommen werden müssen oder vielversprechende, neue Produktideen nicht in die Entwicklung überführt werden.
Ein Unding, findet Birgit Hakenjos, Präsidentin der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg, in deren Kammergebiet das Medizintechnik-Cluster Tuttlingen fällt, wo rund 600 Unternehmen unmittelbar mit der Herstellung von chirurgischen und medizintechnischen Produkten beschäftigt sind. Nach Hakenjos‘ Einschätzung ändern die neuen Übergangsbestimmungen denn auch nichts an den strukturellen Problemen der Verordnung. „Wenn regulatorische Hürden die Entwicklung von Nischenprodukten und neuen, innovativen Medizinprodukten hemmen oder gar verhindern, erreicht die MDR statt ihrem Ziel einer sicheren Versorgung der Patientinnen und Patienten genau das gegenteilige Ergebnis“, sagte die IHK-Präsidentin jüngst. Vor allem im Gesundheitsbereich sollte die Politik Abwanderungen von Unternehmen vermeiden.
Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut will daher am Ball bleiben. Sie drängt darauf, dass der Vorschlag der EU-Kommission zu längeren Übergangsfristen nun vom EU-Parlament und vom Rat zügig angenommen wird. Noch handelt es sich nämlich um einen nicht gültigen Vorschlag. Darüber hinaus, so Hoffmeister-Kraut, müssten die Kapazitäten bei den Zertifizierern, den sogenannten Benannten Stellen, ausgebaut werden. Aktuell liegt die durchschnittliche Dauer einer Zertifizierung bei rund eineinhalb Jahren, rund 24.000 Zertifikate müssen noch ausgestellt werden, und viele kleine und mittelständische Medizintechniker haben noch gar keine Benannte Stelle. Und schließlich müsse es „Zwischenlösungen“, sprich Erleichterungen, für Nischen- und Bestandsprodukte geben. Die Erfahrung zeige: Sind Produkte und Unternehmen einmal vom Markt verschwunden, kommen sie nicht mehr zurück.