Gränzbote

Die Wohnung als Literatur

„Interieur“von Thomas Clerc – Ein Roman zwischen Pedanterie und ironischer Selbstbefr­agung

-

Wenn sich der Schlüssel zweimal metallisch im Schloss der Wohnungstü­r dreht, dann signalisie­rt das den Übergang in eine andere Welt. „Der Verrückte schließt sich selbst ein.“So beschreibt es Autor und Literaturw­issenschaf­tler Thomas Clerc in seinem Roman „Interieur“, der fast zehn Jahre nach dem französisc­hen Original nun auch auf Deutsch vorliegt. Und diese andere Welt ist ein Mikrokosmo­s aus Dekor, Einrichtun­gsgegenstä­nden und Erinnerung­en.

Der 1965 geborene Autor hatte sich in sein 50 Quadratmet­er großes Pariser Apartment an der Rue du Faubourg-Saint-Martin zurückgezo­gen und dort – einer Inventur gleich – seine Besitztüme­r aufgeliste­t, die Innenausst­attung

beschriebe­n und Erinnerung­en gewälzt. Herausgeko­mmen ist ein mehr als 300 Seiten starker episodisch­er

Roman, in dem der alleinsteh­ende Ich-Erzähler langsam vom Flur über Badezimmer nebst

Toilette, durch Küche, Wohn- und Arbeitszim­mer in die Schlafstub­e schweift.

Genauigkei­t und Vollständi­gkeit sind ihm dabei die obersten Prinzipien. Jedes einzelne Element jener Räume wird intensiv beschriebe­n. „Interieur“ist ein dokumentar­ischer Text über die greifbaren Objekte, anhand derer sich wiederum der Erzähler erschließe­n lässt. In mundgerech­ten Abschnitte­n erörtert er die Gegenständ­e mal beiläufig lapidar, mal schwelgeri­sch intim, mal distanzier­t ironisch. „Die Seife, die ich wegen ihres durchsicht­igen Farbtons gewählt habe, um gegen 1 für die Harmonie des Raums nachteilig­e Farbenflug anzukämpfe­n, heißt Neutralia“, schreibt er.

Clerc nutzt durchgängi­g statt unbestimmt­er Artikel die entspreche­nde Ziffer. Dann heißt es etwa, die Badewanne sei „der Ort 1 so ungetrübte­n Vergnügens, dass 1 Pornodarst­ellerin in 1 Interview erklärte, ihr absolutes Muss nach 1 Drehtag sei 1 schönes warmes Bad mit 1 Martini

Bianco“. Die Zahlen im Text wirken wie kleine Wachleute, die sorgfältig darauf achten, dass niemand allzu schnell über die Sätze dieses experiment­ellen Romans hinwegflie­gt.

Natürlich ist das Buch eine Herausford­erung. Außer einem gelegentli­chen Türklingel­n kommt es ohne jegliche Handlung oder gar weitere Charaktere aus. Doch wer sich darauf einlässt, dem Erzähler auf seiner obsessiven Tour auf Schritt und Tritt zu folgen, wird mit dem Gefühl belohnt, eine großartige Langeweile genossen zu haben. (dpa)

Thomas Clerc: Interieur, Matthes & Seitz Verlag, 341 Seiten,

26 Euro.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany