Mord am Krankenbett
Ein Münchner Klinikangestellter gesteht vor Gericht, mehrere Patienten getötet zu haben – Auch der Lyriker Hans Magnus Enzensberger sollte sterben
- Er ist ein großer Mann mit kindlichem Gesicht, der als Angeklagter den Gerichtssaal im Münchner Strafjustizzentrum betritt, und auf den sich alle Augen richten. Später wird er sagen, dass er zwei Meter groß und 120 Kilogramm schwer ist. An Handschellen wird er vorgeführt. Mario G. trägt ein schwarzes Kapuzen-Sweatshirt, das dunkle blonde Haar hat einen UndeSchnitt.
Dieser 26-Jährige wird dafür verantwortlich gemacht, dass in München der Alptraum für KrankenhausPatienten wahr geworden ist: dass sie nicht gepflegt und geheilt werden, sondern dass man ihnen nach dem Leben trachtet und sie tötet. So ist das geschehen im Münchner Klinikum rechts der Isar. Dort soll laut Staatsanwaltschaft der als Pfleger angestellte Mario G. zwei Männer mit starken Beruhigungsmitteln ermordet haben – weil er sie ruhigstellen wollte. Weil er, statt sich um sie zu kümmern, lieber seinen Alkoholrausch ausschlafen und am Handy spielen wollte.
Drei weitere Patienten überlebten knapp. Darunter war auch der bekannte Lyriker, Schriftsteller und Intellektuelle Hans Magnus Enzensberger, damals 90 Jahre alt, der im vergangenen November mit 93 eines natürlichen Todes starb. G. macht zum Prozessauftakt keinen Hehl aus seinen Taten und gesteht. „Die Anklage trifft so zu“, sagt er. „Große Fehler“habe er gemacht, er bereue „das jeden Tag aufs Neue“. Bei den Opfern und den Angehörigen entschuldigt sich der Mann aus Nordrhein-Westfalen. Allerdings sei es nie seine Absicht gewesen, „dass jemand stirbt“.
Im sogenannten Wachraum der Station arbeitete G. im Schichtsystem. Das ist ein mit vier Patienten belegter Übergangsraum zwischen Intensiv- und Normalstation. Im August 2020 spritzte er einem 80-Jährigen die Benzodiazepine – landläufig Tranquilizer genannt – Diazepam und Lorazepam sowie das Opiat Tramadol. Aufgrund der hohen Dosierungen erlitt der Patient eine Vergiftung, kam wieder auf die Intensivstation und verstarb. So erging es auch einem 89-Jährigen, der nach der Verabreichung der Substanz zwei Wochen lang im Koma lag und nicht mehr erwachte. „Ich wollte die Leute ruhigstellen“, sagt G.
Das gleiche Schema wendete er bei einem 90-Jährigen nach einer Krebsoperation und bei einer 54-Jährigen mit epileptischer Vorerkrankung an. Ihre Heilungsprozesse wurden dadurch laut Anklage erheblich verzögert. Auf Hans Magnus Enzensberger
gab es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft gleich drei Mordversuche an zwei aufeinander folgenden Tagen. Die Mittel machten ihn sehr schläfrig, dann wollte G. gegensteuern und spritzte das aufputschende Adrenalin. Mit rasendem Puls kam Enzensberger auf die Intensivstation, sein Leben konnte nur durch künstliche Beatmung gerettet werden.
Diese hatte der Dichter eigentlich per Testamentsverfügung ausgeschlossen, er wollte nicht künstlich am Leben erhalten werden. Doch die Ärzte setzten sich aufgrund der besonderen Lage darüber hinweg und schlossen ihn an. Laut „Süddeutscher Zeitung“soll er vor der Attacke guter Dinge gewesen sein, bei klarem Verstand und kam sogar dem
Wunsch von Krankenhauspersonal nach, einige seiner Bücher zu signieren. Der Angeklagte spricht ruhig und präzise, er hat sich durchaus medizinisches Wissen angeeignet. Im Gerichtssaal scheint es dabei zu frösteln. „Mein Ziel war es zu schlafen oder mich mit meinem Handy zu beschäftigen“, sagt er in einem leicht singenden rheinischen Tonfall. Enzensberger etwa, der ihm unbekannt war, sei in der Nacht eine „Last“gewesen – „unruhig, er hat alles aus dem Bett geworfen“.
Ist das niemandem aufgefallen? Doch. Die Ereignisse wurden, so Staatsanwaltschaftssprecherin Anne Leiding, „durch das engagierte Vorgehen eines Assistenzarztes“entdeckt. Dieser hatte die den Medizinern unerklärlichen Krankheitsverläufe
mit den jeweiligen Personallisten verglichen, das Klinikum erstattete Anzeige. Stimmten nur die Hälfte der Dinge, die G. über fehlende Kontrollen und seine nicht verhinderten Eigenmächtigkeiten am „Rechts der Isar“erzählt, dann würde ein großes Problem auf das Krankenhaus zukommen. Der Medikamentenbestand sei nicht überprüft worden, sagt G. Er selbst habe sich auch privat mit den rasch abhängig machenden Tranquilizern eingedeckt. Die Medikamente will er auch selbst bei der Apotheke bestellt haben, obwohl er das nicht durfte.
Wegen seiner nach eigenen Angaben permanenten Alkoholisierung sei er einmal heimgeschickt worden, drei- oder viermal habe man ihm gesagt, er soll nicht mit einer Alkoholfahne
in die Arbeit kommen, offenbar aber ohne Konsequenzen. Ohne ärztliche Anweisung will er den Patienten Katheter gelegt haben, um keine Windeln wechseln zu müssen. Auch habe er die Patienten, wenn sie in Stühlen saßen, „vor die Wand“gedreht. Da seien sie ruhiger, als wenn sie sich gegenseitig gesehen haben. Die Einträge in die Krankenakten habe er gefälscht.
„Das alles fällt niemandem auf ?“, will der Vorsitzende Richter Norbert Riedmann wissen. „Das ist niemandem aufgefallen.“Beworben hatte er sich als Krankenpfleger, obwohl er Altenpfleger ist. Seiner Vorgesetzten habe er das auch gestanden, sie soll es seiner Aussage nach nicht gestört haben. Manch anderes mutet in diesem Fall auch noch seltsam an. So habe ihm die Klinik auf Dauer als Bleibe in München ein Hotelzimmer bezahlt. Von einem Arzt habe er sich 13.000 Euro geliehen mit der Begründung, sein Auto sei kaputt. Wie G. mit einem Nettogehalt von 3000 bis 3200 Euro täglich 150 Euro hauptsächlich für Alkohol aufbringen konnte, bleibt noch schleierhaft. Der Fall wirft auch weitere Fragen auf: Wie groß ist der Pflegenotstand im Gesundheitssystem, wenn ein Altenpfleger als Krankenpfleger durchgeht? Wenn er offenkundig alkoholisiert weiterarbeiten kann? Wenn jemandem erhebliche finanzielle Zugeständnisse gemacht werden wie die dauerhafte Bezahlung eines Hotelzimmers? Und ist nicht entdeckt worden, dass G., wie er selbst sagt, wegen wiederholten Diebstahls vorbestraft ist?
Nach Darstellung von G. bestand sein Leben in München – er hatte seine Stelle erst im Juli 2020 als Zeitarbeiter angetreten – im Wesentlichen aus exzessivem Trinken, dem Konsum von Tranquilizern und der Beschäftigung mit seinem Lieblingsfußballverein Borussia Mönchengladbach.
Er erzählt, dass er am Morgen als Erstes zur Tankstelle gegangen und eine große Flasche Jägermeister sowie zwölf Desperado-Biere konsumiert habe. Die Flaschen habe er wie Fußballspieler zur Spielaufstellung positioniert, das Ganze fotografiert und in seine Netzwerke gepostet. So sei das weitergegangen mit Schlafen und Trinken und Arbeiten. An Fußball-Spieltagen habe er 60 bis 70 Shots von 0,02 Litern hartem Alkohol und Biere getrunken. „In München war ich vier Monate durchgehend alkoholisiert“, meint er. Und: „Wenn ich gearbeitet habe, habe ich zum größten Teil nichts gemacht.“
Der Prozess sollte erweisen, ob das alles stimmen kann, oder ob G. heftig übertreibt – womöglich, um sich als unzurechnungsfähigen Menschen darzustellen.
Sein Anwalt Ömer Sahinci sagt: „Er bestreitet vehement, dass er die Leute ermorden wollte.“Die Anklage meint aber, dass G. in all den Fällen erkannte, dass die Gabe dieser starken Medikamente zum Tod führen könnte. Medizinische Kenntnisse jedenfalls hat er offenbar durchaus besessen. So hat er bei den Patienten die Venenzugänge gelegt, über die er dann die Tranquilizer verabreichte.
„Ich habe mein Unrechtsbewusstsein völlig verloren“, sagt er über seine Taten. Der Richter will wissen, was wäre, wenn das niemand gestoppt hätte? „Natürlich hätte ich weitergemacht.“Das Landgericht München hat Prozesstermine bis Mitte Mai angesetzt.