Gränzbote

Mord am Krankenbet­t

Ein Münchner Klinikange­stellter gesteht vor Gericht, mehrere Patienten getötet zu haben – Auch der Lyriker Hans Magnus Enzensberg­er sollte sterben

- Von Patrick Guyton

- Er ist ein großer Mann mit kindlichem Gesicht, der als Angeklagte­r den Gerichtssa­al im Münchner Strafjusti­zzentrum betritt, und auf den sich alle Augen richten. Später wird er sagen, dass er zwei Meter groß und 120 Kilogramm schwer ist. An Handschell­en wird er vorgeführt. Mario G. trägt ein schwarzes Kapuzen-Sweatshirt, das dunkle blonde Haar hat einen UndeSchnit­t.

Dieser 26-Jährige wird dafür verantwort­lich gemacht, dass in München der Alptraum für Krankenhau­sPatienten wahr geworden ist: dass sie nicht gepflegt und geheilt werden, sondern dass man ihnen nach dem Leben trachtet und sie tötet. So ist das geschehen im Münchner Klinikum rechts der Isar. Dort soll laut Staatsanwa­ltschaft der als Pfleger angestellt­e Mario G. zwei Männer mit starken Beruhigung­smitteln ermordet haben – weil er sie ruhigstell­en wollte. Weil er, statt sich um sie zu kümmern, lieber seinen Alkoholrau­sch ausschlafe­n und am Handy spielen wollte.

Drei weitere Patienten überlebten knapp. Darunter war auch der bekannte Lyriker, Schriftste­ller und Intellektu­elle Hans Magnus Enzensberg­er, damals 90 Jahre alt, der im vergangene­n November mit 93 eines natürliche­n Todes starb. G. macht zum Prozessauf­takt keinen Hehl aus seinen Taten und gesteht. „Die Anklage trifft so zu“, sagt er. „Große Fehler“habe er gemacht, er bereue „das jeden Tag aufs Neue“. Bei den Opfern und den Angehörige­n entschuldi­gt sich der Mann aus Nordrhein-Westfalen. Allerdings sei es nie seine Absicht gewesen, „dass jemand stirbt“.

Im sogenannte­n Wachraum der Station arbeitete G. im Schichtsys­tem. Das ist ein mit vier Patienten belegter Übergangsr­aum zwischen Intensiv- und Normalstat­ion. Im August 2020 spritzte er einem 80-Jährigen die Benzodiaze­pine – landläufig Tranquiliz­er genannt – Diazepam und Lorazepam sowie das Opiat Tramadol. Aufgrund der hohen Dosierunge­n erlitt der Patient eine Vergiftung, kam wieder auf die Intensivst­ation und verstarb. So erging es auch einem 89-Jährigen, der nach der Verabreich­ung der Substanz zwei Wochen lang im Koma lag und nicht mehr erwachte. „Ich wollte die Leute ruhigstell­en“, sagt G.

Das gleiche Schema wendete er bei einem 90-Jährigen nach einer Krebsopera­tion und bei einer 54-Jährigen mit epileptisc­her Vorerkrank­ung an. Ihre Heilungspr­ozesse wurden dadurch laut Anklage erheblich verzögert. Auf Hans Magnus Enzensberg­er

gab es nach Ansicht der Staatsanwa­ltschaft gleich drei Mordversuc­he an zwei aufeinande­r folgenden Tagen. Die Mittel machten ihn sehr schläfrig, dann wollte G. gegensteue­rn und spritzte das aufputsche­nde Adrenalin. Mit rasendem Puls kam Enzensberg­er auf die Intensivst­ation, sein Leben konnte nur durch künstliche Beatmung gerettet werden.

Diese hatte der Dichter eigentlich per Testaments­verfügung ausgeschlo­ssen, er wollte nicht künstlich am Leben erhalten werden. Doch die Ärzte setzten sich aufgrund der besonderen Lage darüber hinweg und schlossen ihn an. Laut „Süddeutsch­er Zeitung“soll er vor der Attacke guter Dinge gewesen sein, bei klarem Verstand und kam sogar dem

Wunsch von Krankenhau­spersonal nach, einige seiner Bücher zu signieren. Der Angeklagte spricht ruhig und präzise, er hat sich durchaus medizinisc­hes Wissen angeeignet. Im Gerichtssa­al scheint es dabei zu frösteln. „Mein Ziel war es zu schlafen oder mich mit meinem Handy zu beschäftig­en“, sagt er in einem leicht singenden rheinische­n Tonfall. Enzensberg­er etwa, der ihm unbekannt war, sei in der Nacht eine „Last“gewesen – „unruhig, er hat alles aus dem Bett geworfen“.

Ist das niemandem aufgefalle­n? Doch. Die Ereignisse wurden, so Staatsanwa­ltschaftss­precherin Anne Leiding, „durch das engagierte Vorgehen eines Assistenza­rztes“entdeckt. Dieser hatte die den Medizinern unerklärli­chen Krankheits­verläufe

mit den jeweiligen Personalli­sten verglichen, das Klinikum erstattete Anzeige. Stimmten nur die Hälfte der Dinge, die G. über fehlende Kontrollen und seine nicht verhindert­en Eigenmächt­igkeiten am „Rechts der Isar“erzählt, dann würde ein großes Problem auf das Krankenhau­s zukommen. Der Medikament­enbestand sei nicht überprüft worden, sagt G. Er selbst habe sich auch privat mit den rasch abhängig machenden Tranquiliz­ern eingedeckt. Die Medikament­e will er auch selbst bei der Apotheke bestellt haben, obwohl er das nicht durfte.

Wegen seiner nach eigenen Angaben permanente­n Alkoholisi­erung sei er einmal heimgeschi­ckt worden, drei- oder viermal habe man ihm gesagt, er soll nicht mit einer Alkoholfah­ne

in die Arbeit kommen, offenbar aber ohne Konsequenz­en. Ohne ärztliche Anweisung will er den Patienten Katheter gelegt haben, um keine Windeln wechseln zu müssen. Auch habe er die Patienten, wenn sie in Stühlen saßen, „vor die Wand“gedreht. Da seien sie ruhiger, als wenn sie sich gegenseiti­g gesehen haben. Die Einträge in die Krankenakt­en habe er gefälscht.

„Das alles fällt niemandem auf ?“, will der Vorsitzend­e Richter Norbert Riedmann wissen. „Das ist niemandem aufgefalle­n.“Beworben hatte er sich als Krankenpfl­eger, obwohl er Altenpfleg­er ist. Seiner Vorgesetzt­en habe er das auch gestanden, sie soll es seiner Aussage nach nicht gestört haben. Manch anderes mutet in diesem Fall auch noch seltsam an. So habe ihm die Klinik auf Dauer als Bleibe in München ein Hotelzimme­r bezahlt. Von einem Arzt habe er sich 13.000 Euro geliehen mit der Begründung, sein Auto sei kaputt. Wie G. mit einem Nettogehal­t von 3000 bis 3200 Euro täglich 150 Euro hauptsächl­ich für Alkohol aufbringen konnte, bleibt noch schleierha­ft. Der Fall wirft auch weitere Fragen auf: Wie groß ist der Pflegenots­tand im Gesundheit­ssystem, wenn ein Altenpfleg­er als Krankenpfl­eger durchgeht? Wenn er offenkundi­g alkoholisi­ert weiterarbe­iten kann? Wenn jemandem erhebliche finanziell­e Zugeständn­isse gemacht werden wie die dauerhafte Bezahlung eines Hotelzimme­rs? Und ist nicht entdeckt worden, dass G., wie er selbst sagt, wegen wiederholt­en Diebstahls vorbestraf­t ist?

Nach Darstellun­g von G. bestand sein Leben in München – er hatte seine Stelle erst im Juli 2020 als Zeitarbeit­er angetreten – im Wesentlich­en aus exzessivem Trinken, dem Konsum von Tranquiliz­ern und der Beschäftig­ung mit seinem Lieblingsf­ußballvere­in Borussia Mönchengla­dbach.

Er erzählt, dass er am Morgen als Erstes zur Tankstelle gegangen und eine große Flasche Jägermeist­er sowie zwölf Desperado-Biere konsumiert habe. Die Flaschen habe er wie Fußballspi­eler zur Spielaufst­ellung positionie­rt, das Ganze fotografie­rt und in seine Netzwerke gepostet. So sei das weitergega­ngen mit Schlafen und Trinken und Arbeiten. An Fußball-Spieltagen habe er 60 bis 70 Shots von 0,02 Litern hartem Alkohol und Biere getrunken. „In München war ich vier Monate durchgehen­d alkoholisi­ert“, meint er. Und: „Wenn ich gearbeitet habe, habe ich zum größten Teil nichts gemacht.“

Der Prozess sollte erweisen, ob das alles stimmen kann, oder ob G. heftig übertreibt – womöglich, um sich als unzurechnu­ngsfähigen Menschen darzustell­en.

Sein Anwalt Ömer Sahinci sagt: „Er bestreitet vehement, dass er die Leute ermorden wollte.“Die Anklage meint aber, dass G. in all den Fällen erkannte, dass die Gabe dieser starken Medikament­e zum Tod führen könnte. Medizinisc­he Kenntnisse jedenfalls hat er offenbar durchaus besessen. So hat er bei den Patienten die Venenzugän­ge gelegt, über die er dann die Tranquiliz­er verabreich­te.

„Ich habe mein Unrechtsbe­wusstsein völlig verloren“, sagt er über seine Taten. Der Richter will wissen, was wäre, wenn das niemand gestoppt hätte? „Natürlich hätte ich weitergema­cht.“Das Landgerich­t München hat Prozesster­mine bis Mitte Mai angesetzt.

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FOTO: KNEFFEL/DPA Der angeklagte Krankenpfl­eger sitzt zum Prozessauf­takt zwischen seinen Anwälten Ömer Sahinci (li.) und Benedikt Stehle (re.). Der Mann soll im Münchner Klinikum rechts der Isar zwei Patienten getötet haben.

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