Warten auf die große Schlacht
Russische wie ukrainische Truppen bereiten neue Offensiven vor – Experten erwarten weitere große Verluste
- Den Kämpfern vom Baikalsee winken Reichtümer. Der Gouverneur der Region hat für die Erbeutung eines deutschen LeopardPanzers drei Millionen Rubel ausgelobt – knapp 40.000 Euro oder 50 sibirische Automechanikergehälter. Zwar werden die ersten deutschen Kampfpanzer erst in drei Monaten auf dem ukrainischen Schlachtfeld erwartet. Aber Russlands Heimatfront freut sich schon jetzt auf eine neue und siegreiche Großoffensive. Militärblogger melden heftige Kämpfe und eine mögliche Einkesselung des Feindes bei Bachmut, aber auch bei Wuhledar, weit südwestlich im Gebiet Donezk, außerdem Geländegewinne in den Regionen Lugansk und Saporischschja. Fast scheint es, als wäre die Offensive schon im Gange.
Jedenfalls wird in Moskau Großes erwartet. Laut der Massenzeitung Moskowski Komsomolez bereitet sich die Stadt Cherson, die Russlands Truppen erst im November hastig räumten, schon wieder auf deren Rückkehr vor. Die Komsomolskaja Prawda schreibt, eine Vielzahl von Ausländern sei in der Ukraine eingetroffen, um bei Bachmut zu kämpfen. Und der Telegramkanal Juschni Weter prophezeit eine Gegenoffensive der Ukraine gegen die russischen Nachschublinien in der nördlichen Nachbarregion Lugansk. Auch in Kiew werden feindliche Großangriffe ebenso wie eigene Gegenstöße diskutiert. Und der britische „Guardian“kündigt eine neue Kriegsphase an, eine „umfassende Entscheidungsschlacht mit kombinierten Waffen, motorisierter Infanterie, Artillerie, Luftwaffe und möglichen Landungsmanövern“. Europa hätte seit dem Zweiten Weltkrieg nichts Vergleichbares erlebt.
Die Experten sind sich einig, dass beide Seiten wieder angreifen wollen. Nun wird spekuliert, wer zuerst zuschlägt und wo. Russen wie Ukrainer bringen Reserven in Stellung und argwöhnen, die Gegenseite wolle sie damit täuschen. Jedenfalls scheint Eile geboten, Anfang März drohen in der Ostukraine Tauwetter, Frühlingsregen und viel Schlamm, was Angriffe für bis zu sechs Wochen enorm erschwert. Oleksij Danilow, Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates glaubt außerdem, der Kreml wolle bis zum Jahrestag seiner „Kriegsspezialoperation“am 24. Februar „irgendwelche Erfolge“vorweisen. Und es dauert noch ein Vierteljahr, bis die ersten etwa hundert Nato-Kampfpanzer für die Ukraine einsatzbereit sind. Da scheint nur logisch, dass Russland zuerst zum Schlag ausholt. Nur, wird er kriegsentscheidend werden? Entscheidend könnte wohl am ehesten ein Vorstoß aus Belarus sein, um den im vergangenen Februar gescheiterten Überfall auf die Hauptstadt Kiew zu wiederholen. Aber laut der ukrainischen Aufklärung gibt es zurzeit keine Ansammlungen mobiler russischer Truppen in Belarus, die diesen Angriff ausführen könnten.
Und dabei würden die Russen wieder überlange, verwundbare Nachschubwege riskieren. Die Ukrainer erwarten eher, dass die Russen ihre Bemühungen im Osten des Landes verstärken werden, um zumindest die Donbass-Regionen Donezk und Lugansk komplett unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese Offensive wäre strategisch kaum mehr als die Fortsetzung der Angriffe, die die russischen Truppen seit vergangenem April veranstalten. Und es bleibt abzuwarten, ob sie dabei grundlegende taktische Neuerungen riskieren. Ob in Mariupol, bei Sewerodonezk oder Bachmut, die russische Seite setzte im ersten Kriegsjahr vor allem auf das Trommelfeuer ihrer Artillerie und massenhafte Infanterieangriffe. Eine Taktik, die enorme Verluste mit sich brachte, aber sicherstellte, dass auch die Ukrainer viele Soldaten verloren und viel Munition verbrauchten. Etwa 150.000 russische Soldaten, die laut Putin bei der Teilmobilmachung im Herbst eingezogen wurden und noch nicht im Einsatz sind, stünden als Sturmtruppen für die neue Abnutzungsschlacht bereit.
Dagegen bezweifelt der ukrainische Militärexperte Oleksiy Melnyk, dass der Gegner versuchen wird, die ukrainische Front mit dem massierten Einsatz von Panzerkeilen zu durchbrechen: Die Hälfte bis zwei Drittel der modernen russischen Kampfpanzer seien inzwischen ausgeschaltet. „Die Fähigkeit der Russen, diesen Winter oder Frühjahr große, temporeiche Offensiven auf mehreren Achsen zu veranstalten, ist fraglich“, erklärt das amerikanische Institut für Kriegsstudien. Das Blutvergießen in der Ukraine wird wohl auch im Sommer weitergehen.