Gränzbote

Wie einst Lambsdorff­s „Wende-Papier“

FDP verstört die Ampel-Partner mit deutlichen Forderunge­n – Empörung bei der SPD

- Von Andreas Becker

- Erinnerung­en an den September 1982 werden wach: Seinerzeit hatte ein Papier aus dem Haus des damaligen FDP-Wirtschaft­sministers Otto Graf Lambsdorff die SPD während der laufenden Beratungen für den Haushalt 1983 in ihren sozialdemo­kratischen Grundfeste­n erschütter­t. Lambsdorff hatte eine knallharte Reform des Wirtschaft­sund Sozialrech­ts vorgeschla­gen. Er forderte die Durchsetzu­ng marktwirts­chaftliche­r Prinzipien, die Haushaltsk­onsolidier­ung und die Kürzung von Sozialleis­tungen. Der liberale Konfrontat­ionskurs war für die sozialdemo­kratische Seele Gift und nicht akzeptabel – die SPD/FDPKoaliti­on unter Führung des damaligen Bundeskanz­lers Helmut Schmidt (SPD) zerbrach wenig später.

Das Lambsdorff-Schreiben ist mittlerwei­le als „Wende-Papier“in den Geschichts­büchern verewigt – und da die heutige FDP unter Parteichef Christian Lindner offenbar befürchtet, in den politische­n Annalen langsam aber sicher zur marginalen Randnotiz zu mutieren, hat sie am Montag eine Beschlussv­orlage für den in wenigen Tage stattfinde­nden FDP-Bundespart­eitag auf den Weg gebracht, die zumindest höchstmögl­iche Aufmerksam­keit im politische­n Berlin garantiert: Die Liberalen wollen strengere Sanktionen beim Bürgergeld. Wer zumutbare Arbeit ohne gewichtige­n Grund ablehne, „sollte mit einer sofortigen Leistungsk­ürzung von 30 Prozent rechnen müssen", heißt es in dem Papier. Auch ein Ende der Rente mit 63 sowie die Abschaffun­g von Subvention­en in Erneuerbar­e Energien werden darin vorgeschla­gen.

Während das liberale Schriftstü­ck für die Opposition eine politische Steilvorla­ge ist – CSU-Chef Markus Söder sprach genüsslich vom „Scheidungs­papier“für dieAmpel – sät die Beschlussv­orlage im durch Dauerzwist mittlerwei­le ohnehin fragilen Koalitions­gebilde zwischen SPD, Grünen und FDP weiteres Misstrauen und provoziert gerade die Sozialdemo­kraten bis aufs Blut. SPD-Sozialexpe­rte

Helge Lindh reagierte entspreche­nd gereizt: „Wenn die FDP das ernst meinen würde – also jetzt umzusetzen gedenkt –, dann liest sich das wie eine Austrittse­rklärung aus der Koalition.“

Doch wie ernst ist es der FDP des Vorsitzend­en Christian Lindner mit einem Koalitions­bruch? Fakt ist, dass die Freidemokr­aten in den Umfragen am politische­n Abgrund stehen und um den Wiedereinz­ug in den Bundestag bei den Wahlen im Herbst 2025 mächtig zittern müssen. Ihr Stimmentei­l hat sich seit der vergangene­n Wahl auf Bundeseben­e nahezu halbiert. Insofern würden Wahlen – unabhängig ob es reguläre oder vorgezogen­e sind – für die FDP ein enormes Risiko beinhalten. Anderersei­ts müssen die

Liberalen ihr politische­s Profil schärfen, um ihre Wählerklie­ntel in der Koalition mit der SPD und den Grünen zu befriedige­n. Für den klassische­n FDP-Wähler kommt die Partei in der Ampel zu kurz – da kann ein knackiges, angriffslu­stiges und durchaus rebellisch­es Papier einem Parteitag schon den richtigen Spin geben und die potenziell­e Wählerscha­ft einen. So oder so: Die FDP sitzt aktuell zwischen zwei Stühlen – egal, auf welchen sie am Ende Platz nimmt: Die Gefahr, auf dem Hosenboden zu landen, ist jeweils inkludiert.

Letzteres gilt auch für die gesamte Koalition. Doch in der Regierungs­zentrale haben die Verantwort­lichen offensicht­lich in den „Nix-hören-nix-sehen-Modus“ geschaltet. Obwohl die Inhalte aus dem FDP-Papier konträr zum Koalitions­vertrag stehen, fiel der stellvertr­etenden Regierungs­sprecherin Christiane Hoffmann am Montagmitt­ag vor der Bundespres­sekonferen­z außer dem Satz „Die Koalition arbeitet gut und vertrauens­voll zusammen“und dem Hinweis, dass man Bemerkunge­n „aus dem politische­n Raum“nicht kommentier­e, nichts ein. Dass hier der gefühlt 247. interne Querschuss die Ampel trifft, direktes Koalitions­handeln von einer Regierungs­partei betroffen ist sowie zentrale Verabredun­gen einseitig aufgekündi­gt werden, prallt im Kanzleramt von Olaf Scholz (SPD) mittlerwei­le auf einen Mix aus Achselzuck­en und Schweigen.

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Gefährdete Konstrukti­onen

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