Feilen an tausend Details
Klaviermusik Herausragende junge Pianisten nehmen weite Wege in Kauf, um in Marktoberdorf mit der Koryphäe Janina Fialkowska zu arbeiten. Was motiviert sie dazu?
Marktoberdorf Von Nordamerika aus betrachtet, ist Marktoberdorf nicht gerade der Nabel der Welt. Das aber hat den kanadischen Pianisten Charles Richard-Hamelin nicht davon abgehalten, zwischen einem Konzert in seiner Heimat am letzten Sonntag und einem weiteren Auftritt gestern Abend in Japan einen Flug nach Europa zu buchen, um für gerade mal zwei Tage Zwischenstation im Allgäu zu machen. Dort, in der Bayerischen Musikakademie Marktoberdorf, war RichardHamelin zusammen mit vier weiteren jungen Pianisten Teilnehmer der Klavierakademie von Janina Fialkowska.
Glaubt man nun, ein Musiker wie der mit 26 Jahren noch immer junge Richard-Hamelin brauche noch gehörig Schliff durch eine WeltklassePianistin, der irrt gewaltig. Wer am Dienstagvormittag Richard-Hamelins Arbeitsstunde mit Janina Fialkowska verfolgte, vollends, wer am selben Abend den Auftritt des Pianisten in der Musikakademie erlebte, wo der Pianist nicht nur ein atemberaubendes Finale von Chopins h-Moll-Sonate hinlegte: Wer das alles hörte und sah, wird nicht umhinkönnen, Charles RichardHamelin für einen technisch herausragenden und künstlerisch aussagekräftigen Pianisten zu halten. Kein Wunder, dass der Kanadier im vergangenen Jahr den zweiten Preis beim Chopin-Wettbewerb in Warschau, weltweit der Wettbewerb in Sachen Klavier, zugesprochen bekam. Weshalb macht sich so einer nun auf nach Marktoberdorf? Und neben ihm nicht weniger beeindruckende Könner wie Henry Kamer aus den USA, Vitaly Pisarenko aus Russland und Florian Glemser aus Deutschland, die ebenso wie Tolga Atalay Ün (Türkei) zu Beginn dieser Woche drei Tage lang mit Janina Fialkowska arbeiteten?
Zunächst: Die „Grande Dame des Klavierspiels“, die seit ein paar Jahren ihren Lebensmittelpunkt nahe Augsburg hat, wählt die Kandidaten für ihre Akademie nach eigenen Gesichtspunkten aus. Da sie selbst häufig internationale Wettbewerbe mitverfolgt, weiß sie, dass ein großer Teil jener Pianisten, die nicht auf das allerhöchste Treppchen gelangen, in vielen Fällen keinen Deut weniger talentierte Musiker sind als jene, denen der erste Preis verliehen wird. Dass gerade auf den Folgeplätzen Künstler von bemerkenswerter Gestaltungskraft zu finden sind – Pianisten, die es jedoch in einem nach Etiketten und Superlativen gierenden Business schwer haben, ihr Auskommen im übervollen Pianisten-Konzertmarkt zu finden. Eben solch junge Kollegen lädt die erfahrene Fialkowska gezielt zu ihrer Akademie, um ihnen hier nicht zuletzt – wie sie sagt – ein Gefühl von Anerkennung und Unterstützung zu vermitteln.
Unterweisung im Handwerk braucht keiner der Geladenen. In Marktoberdorf geht es um interpretatorische Details, und sei es noch so unscheinbar auf den ersten Blick. Klaviermusik ist nun mal eine Kunst höchster Verfeinerung, und erst die subtile Justierung von tausend Stellschräubchen macht aus sehr gutem Spiel den überragenden Vortrag.
Henry Kramer zum Beispiel. Am Dienstag, nach der Stunde von Fialkowska mit Richard-Hamelin, sitzt der 28-jährige Amerikaner in T-Shirt und Jeans am Flügel und lässt Beethovens Es-Dur-Sonate op. 31/3 souverän aus den Fingern flie- ßen. Fialkowska nickt, doch an einer Stelle hat sie Einwände. „Du willst doch dein Publikum einfangen“, wendet sie sich auf Englisch an Kramer. Also „not so wispy“, nicht so im Flüsterton spielen! Hernach, als Kramer „Gaspard de la nuit“von Maurice Ravel aus den Tasten aufsteigen lässt, ist es nur eine Winzigkeit, die Fialkowska korrigiert haben will: „Just the top note“, nur den obersten Ton eines Akkords noch eine Spur mehr hervorheben! Da ist eine der vielen kleinen Schräubchen.
Tags zuvor hat sie mit Kramer schon einmal gearbeitet, an Werken von Chopin. Nicht zuletzt des großen polnischen Komponisten wegen kommen die jungen Musiker nach Marktoberdorf – gilt Janina Fialkowska doch als große Chopin-Interpretin heutiger Zeit. Nicht ohne Grund hat sie, die im Mai 65 Jahre alt wird, das Programm ihrer internationalen „Birthday Celebration Tour“, an deren Beginn und zugleich als Akademieauftakt ein Klavierabend in Marktoberdorf stand, ausschließlich Chopin gewidmet. Fialkowska selbst war Schülerin von Artur Rubinstein, dem wohl größten Chopin-Interpreten des 20. Jahrhunderts. Es ist diese Anbindung an die Tradition, an versunkene Spiel- und Hörgewohnheiten, deretwegen die junge Pianistengeneration weite Wege in Kauf nimmt für die Zusammenarbeit mit Fialkowska.
Jeder der Akademietage endet mit einem öffentlichen Konzert. Am Dienstag gehörte der Abend Charles Richard-Hamelin und Henry Kramer. Ob Kramer nun die „top note“in Ravels „Gaspard“tatsächlich in der gewünschten Intensität gespielt hat, wird wohl nur die Ideengeberin ermessen haben. Der normale Hörer im akustisch vortrefflichen Saal der Musikakademie kam freilich aus dem Staunen nicht heraus, welch ein künstlerisches Kaliber da mit Henry Kramer am Flügel saß. Spannungsgeladen und farbenschillernd Ravels „Gaspard“, und dann erst die Chopin’sche b-Moll-Sonate: Der berühmte und leider so oft zerdonnerte Trauermarsch, hier gelang er ergreifend ohne Zentnerschwere, obendrein mit einer betörenden melodischen Perlenkette in der Mitte. Wer wird bei solch packendem Spiel noch nach ersten Preisen in Warschau, Moskau oder sonst wo fragen?