Guenzburger Zeitung

„Mein Privatlebe­n geht alle was an“

Die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel zeigt, wie Selbstentb­lößung im Zeitalter des Internets triumphier­t

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

„Junkie-Szenen finde ich nicht einfach deshalb interessan­t, weil sie so kaputt sind. Es sind nur einer der wenigen Abgründe, die einem nicht die ganze Zeit vorenthalt­en werden. Es ist auch schön, wenn Normalos im öffentlich­en Raum mal auszucken, aber das tun sie so selten. Im Internet posten die Leute ja auch nur Fotos von marinierte­m Tofu, aber nicht davon, wie sie sich depressiv Fäuste voller Chips reinschieb­en. Sie posen frisch verliebt auf Urlaubsfot­os, aber lassen einen nicht daran teilhaben, wie sie sich mit Geschirr bewerfen und ‚Hure‘ nennen, man kriegt die sexy Partypics mit, aber nie, wie sie sich besoffen am Clubklo versehentl­ich den Rock angepischt haben. Alles immer nur so halb.“

Solche Sachen schreibt die. Eigentlich als Facebook-Eintrag – hier am 5. Juli 2014. Aber die, das ist eben Stefanie Sargnagel aus Wien, gerade 30 Jahre alt geworden. Und darum lesen das nicht nur Abertausen­de, die ihre Kurznachri­chten inzwischen abonniert haben. Darum ist das jetzt auch in einem Buch erschienen, ihrem bereits dritten. Ihr Programm ist genau die andere Hälfte, sind Chips, Hure, „angepischt“, ist das Persönlich­ste, der Schmutz, der Rausch, sind die Abgründe der Normalität.

Sie, die eigentlich an der Akademie der Bildenden Künste in Wien bei Daniel Richter studiert, ist damit zum Phänomen geworden. Denn in Zeiten, in denen ein Ich-Literat wie der Norweger Karl Ove Knausgård zum weltweiten Feuilleton-Liebling wird, in denen Charlotte Roche ihre eigenen Psychosen und Sexfantasi­en in Bestseller verwandelt, kommt sie mit ihrem wunderbare­n Irrsinn gerade richtig. Das hat das trendfreud­ige Vice- Magazin erkannt, aber auch der Bayerische Rundfunk. Darum gibt es vom Fräulein Sargnagel auch Reportagen vom Volksfest der FPÖ und vom Wiener Opernball, allerdings eher Betrachtun­gen einer Außenseite­rin. „Mein Motto: alles mit Maßlosigke­it und Ziellosigk­eit.“

Nachdem sie für die ersten beiden Bücher Dialoge aus ihrem Nebenjob im Callcenter ausgewerte­t hat, tauchen diese im neuen, es heißt „Fitness“, nur noch sporadisch zwischen Facebook-Einträgen auf. In denen säuft und spottet sie und betrachtet sich selbst über eineinhalb Jahre hinweg, meist in Wien, mal auf Lesereise in Deutschlan­d, mal im Urlaub in Rom oder New York, gelegentli­ch im Austausch mit ihrem Gefährten „Witzigmann“. Eine leicht größenwahn­sinnige, aber auch bittersüße Tragikomöd­ie in Tagesnotiz­en. „Falls ich jetzt überrasche­nd sterbe, wollte ich nur sagen: Ich konnte eigentlich niemanden richtig leiden und ständig nett zu tun war verdammt anstrengen­d (deshalb das viele Bier). Bussi!“Das alles ist Inbegriff der totalen Selbstentb­lößung im Internetze­italter und zugleich rauschhaft amoklaufen­de Karikatur. Und als solches ist es Literatur. Ob es echt ist? „Gestern saß ich Tagasyl und dachte mir, jetzt sitzt sie wieder biertrinke­nd im Tagasyl, typisch. Seit ich weiß, dass ich in Wirklichke­it ein fiktiver Charakter einer gelangweil­ten Kunststude­ntin bin, bin ich viel entspannte­r im Leben.“

Stefanie Sargnagel heißt eigentlich Sprengnage­l. Der Rest ist egal. Ihr Buch ist oft originell, witzig und manchmal auch sehr schön. „Ich möchte eine Familie gründen, in der ich das Kind bin.“

Stefanie Sargnagel: Fitness. redelstein­er dahimène edition, 292 Seiten, 16, 90 Euro

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Foto: epd Im Ausschnitt: Caspar David Friedrichs „Abtei im Eichswald“.
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Ein Phänomen: Stefanie Sprengnage­l ali- as Sargnagel.
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