„Mein Privatleben geht alle was an“
Die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel zeigt, wie Selbstentblößung im Zeitalter des Internets triumphiert
„Junkie-Szenen finde ich nicht einfach deshalb interessant, weil sie so kaputt sind. Es sind nur einer der wenigen Abgründe, die einem nicht die ganze Zeit vorenthalten werden. Es ist auch schön, wenn Normalos im öffentlichen Raum mal auszucken, aber das tun sie so selten. Im Internet posten die Leute ja auch nur Fotos von mariniertem Tofu, aber nicht davon, wie sie sich depressiv Fäuste voller Chips reinschieben. Sie posen frisch verliebt auf Urlaubsfotos, aber lassen einen nicht daran teilhaben, wie sie sich mit Geschirr bewerfen und ‚Hure‘ nennen, man kriegt die sexy Partypics mit, aber nie, wie sie sich besoffen am Clubklo versehentlich den Rock angepischt haben. Alles immer nur so halb.“
Solche Sachen schreibt die. Eigentlich als Facebook-Eintrag – hier am 5. Juli 2014. Aber die, das ist eben Stefanie Sargnagel aus Wien, gerade 30 Jahre alt geworden. Und darum lesen das nicht nur Abertausende, die ihre Kurznachrichten inzwischen abonniert haben. Darum ist das jetzt auch in einem Buch erschienen, ihrem bereits dritten. Ihr Programm ist genau die andere Hälfte, sind Chips, Hure, „angepischt“, ist das Persönlichste, der Schmutz, der Rausch, sind die Abgründe der Normalität.
Sie, die eigentlich an der Akademie der Bildenden Künste in Wien bei Daniel Richter studiert, ist damit zum Phänomen geworden. Denn in Zeiten, in denen ein Ich-Literat wie der Norweger Karl Ove Knausgård zum weltweiten Feuilleton-Liebling wird, in denen Charlotte Roche ihre eigenen Psychosen und Sexfantasien in Bestseller verwandelt, kommt sie mit ihrem wunderbaren Irrsinn gerade richtig. Das hat das trendfreudige Vice- Magazin erkannt, aber auch der Bayerische Rundfunk. Darum gibt es vom Fräulein Sargnagel auch Reportagen vom Volksfest der FPÖ und vom Wiener Opernball, allerdings eher Betrachtungen einer Außenseiterin. „Mein Motto: alles mit Maßlosigkeit und Ziellosigkeit.“
Nachdem sie für die ersten beiden Bücher Dialoge aus ihrem Nebenjob im Callcenter ausgewertet hat, tauchen diese im neuen, es heißt „Fitness“, nur noch sporadisch zwischen Facebook-Einträgen auf. In denen säuft und spottet sie und betrachtet sich selbst über eineinhalb Jahre hinweg, meist in Wien, mal auf Lesereise in Deutschland, mal im Urlaub in Rom oder New York, gelegentlich im Austausch mit ihrem Gefährten „Witzigmann“. Eine leicht größenwahnsinnige, aber auch bittersüße Tragikomödie in Tagesnotizen. „Falls ich jetzt überraschend sterbe, wollte ich nur sagen: Ich konnte eigentlich niemanden richtig leiden und ständig nett zu tun war verdammt anstrengend (deshalb das viele Bier). Bussi!“Das alles ist Inbegriff der totalen Selbstentblößung im Internetzeitalter und zugleich rauschhaft amoklaufende Karikatur. Und als solches ist es Literatur. Ob es echt ist? „Gestern saß ich Tagasyl und dachte mir, jetzt sitzt sie wieder biertrinkend im Tagasyl, typisch. Seit ich weiß, dass ich in Wirklichkeit ein fiktiver Charakter einer gelangweilten Kunststudentin bin, bin ich viel entspannter im Leben.“
Stefanie Sargnagel heißt eigentlich Sprengnagel. Der Rest ist egal. Ihr Buch ist oft originell, witzig und manchmal auch sehr schön. „Ich möchte eine Familie gründen, in der ich das Kind bin.“
Stefanie Sargnagel: Fitness. redelsteiner dahimène edition, 292 Seiten, 16, 90 Euro