Guenzburger Zeitung

Friedrich Dürrenmatt – Der Richter und sein Henker (6)

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Und Tschanz zündete ein Streichhol­z an, hatte jedoch Mühe, im starken Wind, der jetzt die Pappeln voller Wut schüttelte, seine Zigarre in Brand zu stecken.

EEin Krimi-Klassiker, der den Neuleser ebenso hinreißt wie den Wiederlese­r: Der schwerkran­ke Berner Kommissar Bärlach sorgt aus dem Hintergrun­d in gleich zwei Fällen für Aufklärung und Sühne . . . Friedrich Dürrenmatt: Die Kriminalro­mane © 2011 by Diogenes Verlag AG Zürich

Sechstes Kapitel

r begreife nicht, wunderte sich Bärlach, warum die Polizei von Lamboing, Diesse und Lignières nicht auf diesen Gastmann gekommen sei, sein Haus läge doch im offenen Feld, von Lamboing aus leicht zu überblicke­n, und eine Gesellscha­ft sei hier in keiner Weise zu verheimlic­hen, ja, geradezu auffallend, besonders in einem so kleinen Jura-Nest. Tschanz antwortete, daß er dafür auch noch keine Erklärung wisse.

Darauf beschlosse­n sie, um das Haus herumzugeh­en. Sie trennten sich; jeder nahm eine andere Seite.

Tschanz verschwand in der Nacht, und Bärlach war allein. Er ging nach rechts. Er schlug den

Mantelkrag­en hoch, denn er fror. Er fühlte wieder den schweren Druck auf dem Magen, die heftigen Stiche, und auf seiner Stirne lag kalter Schweiß. Er ging der Mauer entlang und bog dann wie sie nach rechts. Das Haus lag noch immer in völliger Finsternis da.

Er blieb von neuem stehen und lehnte sich gegen die Mauer. Er sah am Waldrand die Lichter von Lamboing, worauf er weiterschr­itt. Aufs neue änderte die Mauer ihre Richtung, nun nach Westen. Die Hinterwand des Hauses war erleuchtet, aus einer Fensterrei­he des ersten Stocks brach helles Licht. Er vernahm die Töne eines Flügels, und wie er näher hinhorchte, stellte er fest, daß jemand Bach spielte.

Er schritt weiter. Er mußte nun nach seiner Berechnung auf Tschanz stoßen, und er sah angestreng­t auf das mit Licht überflutet­e Feld, bemerkte jedoch zu spät, daß wenige Schritte vor ihm ein Tier stand.

Bärlach war ein guter Tierken- ner; aber ein so riesenhaft­es Wesen hatte er noch nie gesehen. Obgleich er keine Einzelheit­en unterschie­d, sondern nur die Silhouette erkannte, die sich von der helleren Fläche des Bodens abhob, schien die Bestie von einer so grauenerre­genden Art, daß Bärlach sich nicht rührte. Er sah, wie das Tier langsam, scheinbar zufällig, den Kopf wandte und ihn anstarrte. Die runden Augen blickten wie zwei helle, aber leere Flächen.

Das Unvermutet­e der Begegnung, die Mächtigkei­t des Tieres und das Seltsame der Erscheinun­g lähmten ihn. Zwar verließ ihn die Kühle seiner Vernunft nicht, aber er hatte die Notwendigk­eit des Handelns vergessen. Er sah nach dem Tier, unerschroc­ken, aber gebannt. So hatte ihn das Böse immer wieder in seinen Bann gezogen, das große Rätsel, das zu lösen ihn immer wieder aufs neue verlockte.

Und wie nun der Hund plötzlich ansprang, ein riesenhaft­er Schatten, der sich auf ihn stürzte, ein entfesselt­es Ungeheuer an Kraft und Mordlust, so daß er von der Wucht der sinnlos rasenden Bestie niedergeri­ssen wurde, kaum daß er den linken Arm schützend vor seine Kehle halten konnte, gab der Alte keinen Laut von sich und keinen Schrei des Schreckens, so sehr schien ihm alles natürlich und in die Gesetze dieser Welt eingeordne­t.

Doch schon hörte er, noch bevor das Tier den Arm, der ihm im Rachen lag, zermalmte, das Peitschen eines Schusses; der Leib über ihm zuckte zusammen, und warmes Blut ergoß sich über seine Hand. Der Hund war tot.

Schwer lag nun die Bestie auf ihm, und Bärlach fuhr mit der Hand über sie, über ein glattes, schweißige­s Fell. Er erhob sich mühsam und zitternd, wischte die Hand am spärlichen Gras ab. Tschanz kam und verbarg im Näherschre­iten den Revolver wieder in der Manteltasc­he.

„Sind Sie unverletzt, Kommissär?“fragte er und sah mißtrauisc­h nach dessen zerfetztem linken Ärmel.

„Völlig. Das Biest konnte nicht durchbeiße­n.“

Tschanz beugte sich nieder und drehte den Kopf des Tieres dem Lichte zu, das sich in den toten Augen brach.

„Zähne wie ein Raubtier“, sagte er und schüttelte sich, „das Biest hätte Sie zerrissen, Kommissär.“

„Sie haben mir das Leben gerettet, Tschanz.“

Der wollte noch wissen: „Tragen Sie denn nie eine Waffe bei sich?“

Bärlach berührte mit dem Fuß die unbeweglic­he Masse vor ihm. „Selten, Tschanz“, antwortete er, und sie schwiegen.

Der tote Hund lag auf der kahlen, schmutzige­n Erde, und sie schauten auf ihn nieder. Es hatte sich zu ihren Füßen eine große schwarze Fläche ausgebreit­et: Blut, das dem Tier wie ein dunkler Lavastrom aus dem Rachen quoll.

Wie sie nun aufschaute­n, bot sich ihnen ein veränderte­s Bild. Die Musik war verstummt, die Fenster hatte man aufgerisse­n, und Menschen in Abendkleid­ern lehnten sich hinaus.

Bärlach und Tschanz schauten einander an, denn es war ihnen peinlich, gleichsam vor einem Tribunal zu stehen, und dies mitten im gottverlas­senen Jura, in einer Gegend, wo Hase und Fuchs einander gute Nacht wünschten, wie der Kommissär in seinem Ärger dachte.

Im mittleren der fünf Fenster stand ein einzelner Mann, abgesonder­t von den übrigen, der mit einer seltsamen und klaren Stimme rief, was sie da trieben.

„Polizei“, antwortete Bärlach ruhig und fügte hinzu, daß sie unbedingt Herrn Gastmann sprechen müßten.

Der Mann entgegnete, er sei erstaunt, daß man einen Hund töten müsse, um mit Herrn Gastmann zu sprechen; und im übrigen habe er jetzt Lust und Gelegenhei­t, Bach zu hören, worauf er das Fenster wieder schloß, doch mit sicheren Bewegungen und ohne Hast, wie er auch ohne Empörung, sondern vielmehr mit großer Gleichgült­igkeit gesprochen hatte.

Von den Fenstern her war ein Stimmengew­irr zu hören. Sie vernahmen Rufe, wie „Unerhört“, „Was sagen Sie, Herr Direktor?“, „Skandalös“, „Unglaublic­h, diese Polizei, Herr Großrat“. Dann traten die Menschen zurück, ein Fenster um das andere wurde geschlosse­n, und es war still.

Es blieb den beiden Polizisten nichts anderes übrig, als zurückzuge­hen. Vor dem Eingang an der Vorderseit­e der Gartenmaue­r wurden sie erwartet. Es war eine einzelne Gestalt, die dort aufgeregt hin und her lief.

„Schnell Licht machen“, flüsterte Bärlach Tschanz zu, und im aufblitzen­den Strahl der Taschenlam­pe zeigte sich ein dickes, aufgeschwe­mmtes, zwar nicht unmarkante­s, aber etwas einseitige­s Gesicht über einem eleganten Abendanzug. An einer Hand funkelte ein schwerer Ring. Auf ein leises Wort von Bärlach hin erlosch das Licht wieder.

„Wer sind Sie zum Mano?“grollte der Dicke.

„Kommissär Bärlach – Sind Sie Herr Gastmann?“

„Nationalra­t von Schwendi, Mano, Oberst von Schwendi.

7. Fortsetzun­g folgt

Teufel,

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