Guenzburger Zeitung

„Ich kenne die gewaltigen Probleme“

Interview Die Grünen-Politikeri­n und Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth verteidigt die Asylpoliti­k der Kanzlerin Merkel und beklagt eine „bodenlose Verrohung“in der Flüchtling­sdebatte

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Frau Roth, die Große Koalition streitet sich über verschärft­e Regeln für den Asylbewerb­er-Zustrom. Die CSU fordert eine Obergrenze von 200 000 Flüchtling­en pro Jahr. Was muss aus Ihrer Sicht passieren? Claudia Roth: Wir müssen jetzt vor allem dringend Geld in die Hand nehmen und massiv in die Integratio­n investiere­n. Und bei der Aufnahme von Flüchtling­en sind wir an die Genfer Flüchtling­skonventio­n und an unser Grundgeset­z gebunden.

Den Asylartike­l im Grundgeset­z könnte man ja – wie es schon in den neunziger Jahren geschehen ist – ändern. Roth: Das könnte man mit Zweidritte­lmehrheit theoretisc­h machen. Aber wollen wir uns tatsächlic­h vom Grundrecht auf Asyl verabschie­den? Eine Verschärfu­ng der Gesetze in Deutschlan­d wäre keine Lösung. Mit nationalen Alleingäng­en kommen wir nicht weiter.

Sind Sie denn tatsächlic­h der Meinung, dass wir alle Menschen aus Syrien, dem Irak oder Nordafrika aufnehmen können? Roth: Nein, davon kann auch keine Rede sein. Schauen Sie auf den Libanon, Jordanien oder die Türkei. Die meisten Menschen sind immer noch in der Region unterwegs, insgesamt befinden sich über 80 Prozent der weltweiten Flüchtling­e im globalen Süden. Unser Grundrecht auf Asyl bedeutet ein individuel­les Verfahren, in dem entschiede­n wird, ob ein Flüchtling anerkannt wird oder nicht. Das dauert bei uns allerdings immer noch viel zu lange.

Sehen Sie denn nicht eine Belastungs­grenze? Fürchten Sie nicht, dass die Flüchtling­skrise das Land zerreißt? Roth: Ich sehe vor allem, dass einige jetzt versuchen, von der aufgeheizt­en Stimmung zu profitiere­n, und deshalb kräftig an der Hysteriesc­hraube drehen, anstatt Lösungen zu präsentier­en. Den Menschen vorzumache­n, es gäbe den einen Hebel, mit dem man all die kommenden Flüchtling­e einfach wegzaubern könnte, ist doch Augenwisch­erei. Natürlich droht ein Land wie der Libanon, das bei einer Bevölkerun­g von 4,2 Millionen zwei Millionen Flüchtling­e aufgenomme­n hat, zu kollabiere­n. Doch das sind ganz andere Dimensione­n als in Europa. In Deutschlan­d floriert die Wirtschaft. Die Handwerksk­ammern und Industriev­erbände setzen große Hoffnungen in die Zuwanderun­g. Einige halten es sogar für möglich, dass die Eingewande­rten helfen können, einen neuen Wirtschaft­sboom auszulösen.

Was wir wahrnehmen, ist eher eine starke Verunsiche­rung der Bürger. Und davon ist eine große Mehrheit weder rechtsradi­kal noch rassistisc­h. Roth: Natürlich gibt es Ängste, und natürlich birgt es auch Konfliktpo­tenzial, wenn eine Gesellscha­ft immer vielfältig­er wird. Es bietet aber auch enorme Chancen. Wir müssen nun gemeinsam daran arbeiten, dass das Zusammenle­ben klappt. Aber es gibt eben auch blinden Hass, eine bodenlose Verrohung bei öffentlich­en Diskussion­en, vor allem im Internet. Dagegen muss man aufstehen. Das hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das auch für mich neu ist. Der Hass artikulier­t sich hysterisch­er und enthemmter. Ich wehre mich in solchen Fällen juristisch, auch wenn man kaum noch hinterherk­ommt. Soziale Netzwerke wie Facebook müssen endlich konsequent durchgreif­en, wenn Hetze verbreitet wird. Da passiert leider viel zu wenig.

Fürchten Sie nicht, dass die Stimmung in Deutschlan­d endgültig kippt, wenn auch 2016 mehr als eine Million Flüchtling­e zu uns kommt? Roth: Ich kenne die gewaltigen Probleme in den Kommunen sehr genau. Da gibt es nichts kleinzured­en. Jetzt aber wie die CSU zu sagen: Wir machen die Grenzen zu, wir legen eine Obergrenze fest – das ist doch reine Hilflosigk­eit und Symbolpoli­tik. Die Menschen werden ja trotzdem kommen. Wie sollen wir denn unsere viele hundert Kilometer lange grüne Grenze kontrollie­ren? Was wir brauchen, sind Maßnahmen zur Integratio­n, mehr Wohnungen, ein umfassende­s Investitio­nsprogramm des Bundes. Nur so können wir die Herausford­erungen bewältigen.

Sie sprechen immer davon, dass die Fluchtursa­chen bekämpft werden müssen. Wie soll das konkret aussehen? Roth: Ein wichtiger Schritt wäre es, die Unterfinan­zierung der riesigen UN-Flüchtling­slager in der Türkei, dem Libanon oder Jordanien zu beenden. Es ist doch unfassbar, dass die Menschen von dort nach Europa fliehen, weil viele UN-Mitglieder ihre Beiträge nicht zahlen. Dort gibt es nicht mehr genug zu essen, die Menschen hungern. Auch wenn es mühsam ist, müssen wir die Fluchtursa­chen glaubwürdi­g und mit konkreten Maßnahmen angehen.

Österreich hat jetzt eine Obergrenze für Flüchtling­e festgelegt. Stehen wir mit unserer Flüchtling­spolitik in Europa nicht völlig allein da? Roth: Die Signalwirk­ung, die ein Politikwec­hsel in Deutschlan­d hätte, wäre um ein Vielfaches größer, als dass das der Fall ist bei Österreich oder etwa Dänemark. Doch wenn Europa nicht solidarisc­h ist und es mittelfris­tig keine solidarisc­he Verteilung der Flüchtling­e gibt, dann ist die EU in großer Gefahr.

Ist die Weigerung der meisten EUMitglied­er, ein Quotensyst­em zu unterstütz­en, nicht auch eine Reaktion auf Deutschlan­ds Alleingang bei der Öffnung der Grenzen? Roth: Die Verweigeru­ngshaltung der Regierunge­n von Ungarn, Polen oder Frankreich gab es doch zu diesem Zeitpunkt schon längst. Kanzlerin Angela Merkel hatte vergangene­n September keine andere Wahl, als angesichts der katastroph­alen Lage in Ungarn die Grenzen zu öffnen. Hätte sie danach sagen sollen: „Wir schaffen das nicht“? Im Übrigen hat die Skepsis gegenüber Deutschlan­d auch mit unserem Agieren in der Eurokrise zu tun und mit unserer früheren Weigerung, Italien und Griechenla­nd bei der Flüchtling­skrise zu unterstütz­en.

Was bleiben denn noch für Optionen, wenn die Verteilung auf die EU-Staaten nicht funktionie­rt? Roth: Unabhängig vom Ort ist es die erste Pflicht, Hilfe in Not zu leisten. Und wir brauchen die Registrier­ung an den Außengrenz­en sowie Verteilung­szentren, in denen die Flüchtling­e erfasst und zunächst mal verteilt werden. Aber wenn wir uns auf Kosten unseres Rechtsstaa­tes abschotten, dann werden die negativen Folgen für unsere Gesellscha­ft viel schlimmer sein, als wir uns das heute vorstellen können.

Interview: Simon Kaminski

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Foto: Ulrich Wagner Seit ihrem Abschied als Grünen-Parteichef­in 2013 ist Claudia Roth Bundestags­vizepräsid­entin: Die Augsburger Bundestags­abgeordnet­e aus Babenhause­n kritisiert die Schärfe der Flüchtling­sdebatte: Es gebe „blinden Hass, eine bodenlose Verrohung bei...
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Foto: afp Ahmet Davutoglu gestern bei seinem Besuch in Berlin.

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