Ich bin Flüchtling
Ich bin Flüchtling. Im November 1968 kam ich im Alter von acht Jahren mit meinen Eltern aus der damaligen Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Dabei hatten wir jeder einen Koffer und die Schreibmaschine meines Vaters, sonst nichts. Wir flüchteten vor einer restaurierten Diktatur, die meinen Vater als Regimekritiker beseitigen wollte. Und damit unsere Familie. Nach einer Odyssee durch das Land fanden wir in Köln eine dauerhafte Bleibe. Ein Priester organisierte für uns alte Möbel und gebrauchte Decken. Wir waren unendlich dankbar! Von damals an begleitet mich Mutters Ermahnung: „Du musst dich gut und höflich benehmen. Wenn die Menschen hier eine unhöfliche kleine Tschechin sehen, dann werden sie sagen: Alle Tschechen sind schlecht!“Und das durfte nicht sein. Ich bin Flüchtling. Mein Herz schlägt für alle, die schutzlos und hilflos sind, die die Heimat verlassen müssen, weil ein Regime und unerträgliche Zustände sie dazu zwingen, die mit Haft und Tod bedroht sind wie einst mein Vater. Es ist die Pflicht aller Menschen und erst recht der Humanisten und Christen, Bedrohten zu helfen. Wohlstand und Demokratie haben wir uns nicht allein verdient, sie sind das Ergebnis vielschichtiger Einflüsse und Entwicklungen, die der Einzelne nur bedingt in der Hand hat. Wenn ich auf die Ereignisse in den Städten Deutschlands in der Silvesternacht denke, werde ich traurig. Da haben sich Flüchtlinge zu sexistischen Übergriffen auf Frauen hinreißen lassen, zu Beleidigungen und Gewalt, die sich mit anderer Kultur und Sichtweise auf Frauen nicht entschuldigen lassen. Ich stelle mir vor, wie enttäuscht da manch einer ist: die, die Flüchtlingen wirklich helfen wollen. Die, die so unverschämt angegriffen worden sind. Und schließlich die, denen es daran liegt, friedlich in Deutschland einen neuen Anfang zu wagen. Und ich vermute, dass es irgendwo eine Flüchtlingsmutter gibt, die ihrem Sohn sagt: „Du musst höflich und freundlich sein, denn sonst sagen sie in Deutschland: Alle Flüchtlinge sind schlecht.“Und das darf nicht sein.