Eine Familie zerfleischt sich
Augsburgs künftiger Intendant André Bücker inszeniert in Koblenz ein arges Stück – und erhält eine Auszeichnung
Koblenz Dass dieses kleine, frühklassizistische Theater in Koblenz zur Hebung der Sittsamkeit errichtet worden war, ist auf Lateinisch gleich zweimal in Stein gemeißelt: draußen groß unter der Traufe, drinnen groß über dem Bühnenportal. An diesem Samstagabend aber steht es schlecht um die guten Sitten. Um im Duktus von Tracy Letts Drama „Eine Familie“zu bleiben: Sie sind am Arsch. Positiv formuliert: Das Theater Koblenz und mit ihm der Regisseur André Bücker, Augsburgs künftiger Intendant ab 2017, mahnen in Form eines abschreckend dargestellten Familienverbunds. Ibsen funktioniert so, Tennessee Williams und auch Tracy Letts „Eine Familie“, ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreis und auch schon verfilmt mit Meryl Streep („Im August in Osage County“).
Es kommt aber auch verdammt viel zusammen bei den Westons in Oklahoma. Alkohol, Tablettensucht und die Probleme dreier Ehen sind quasi nur die Grundausstattung einer Tragödie, bei der sowohl die Handelnden auf der Bühne als auch das Publikum als auch der Regisseur Bücker dankbar die wenigen Gelegenheiten aufgreifen, da von einem Familienmitglied mal ein Scherz gemacht wird, um in der allgemeinen Zerfleischung eine peinliche Situation zu überspielen. Das entspannt. Jedenfalls für einen Moment, bevor es dann noch ärger kommt rund um die bemitleidenswerten Schwestern und Mutter-Monster Violet und Mattie Fae: Verführungsversuche an der minderjährigen Enkelin Violets, ein lang zurückliegender innerfamiliärer Seitensprung mit der Folge von Inzest bringen das Fass zum Überlaufen.
Mit ihren hundsgemein herausgeschleuderten „Wahrheiten“terrorisieren Violet und Mattie Fae ihre Kinder plus Partner ausgerechnet am Tag der Beerdigung von Violets Mann, der sich wohl umgebracht hat, weil er Schuld, Vorwürfe, Selbsttäuschung und Lebenslüge nicht so lange aushalten konnte wie die anderen. Das Ganze also keine hübsche Kleinbürgerhochzeit, sondern eine bösartige Middle-ClassBeerdigung, dessen Finale deprimierend offenbleibt: Violet, auf den Krebstod krank, hat in der Familienschlacht gewonnen und haushoch verloren – ihre drei Töchter verlassen sie.
Zu den starken Vorzügen des Abends, man sieht das mit Erleichterung, gehört die Regie André Bückers. Er setzt ein verblüffend gutes Ensemble vollkommen klar, trocken, realistisch, gleichsam nackt in Szene. Schauspieler-Theater, ausgefeilt bis ins Detail. Keine Spitzfindigkeiten, keine Dekonstruktionen, keine ironische Herablassung. Die menschliche Befindlichkeit, das größte aller Dramen, wird nicht erkenntnishuberisch, sondern nüchtern-plausibel dargelegt. Ein Spiegel ist aufgestellt, der bis auf zwei, drei Farce-Überdrehungen verzerrungsfrei reflektiert. Die Königin an Ag- gressivität und Schutzbedürftigkeit im Ensemble: Tatjana Hölbing als Violet.
Nach der rhythmisch beklatschten Premiere bekennt Bücker im persönlichen Gespräch, dass „Eine Familie“potenziell auch für Augsburg infrage kommt. Ob weitere Regie-Verpflichtungen vor dem Augsburger Antritt anstehen werden? „Ja, auch Oper“, sagt Bücker. Aber Konkretes dürfe er noch nicht herauslassen. Doch folgende Neuigkeit erzählt er mit Freude: Dass das Theater Dessau für die Spielzeit 2014/15, als er dort in seinem letzten Intendanten-Jahr verantwortlich war, den „Theaterpreis des Bundes“aus dem Hause Grütters erhalte. Das schmückt – und lässt für Schwabens große Bühne hoffen.