Ist es ein Infarkt?
Von sogenannten „Chest pain units“profitieren vor allem Menschen mit unklarem akutem Brustschmerz. In Deutschland soll es bald ein flächendeckendes Netz solcher Abteilungen geben
Ulm Es gibt Fälle, da ist nahezu alles klar: Wenn ein Patient einen starken, drückenden Schmerz hinter dem Brustbein verspürt, der in den linken Arm, in den Hals oder in den Bauch ausstrahlt, und dazu noch Angst und kalter Schweiß vorhanden sind, dann hat dieser Patient „mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit einen Herzinfarkt“, sagt Professor Jochen Wöhrle. Aber so einfach ist es eben nicht immer, das Krankheitsgeschehen hat viele Facetten, und die Menschen sind unterschiedlich. Manche bemerken ein Ziehen und Stechen in der Brust. Steckt auch da ein Infarkt dahinter? In einer „Chest pain unit“(CPU), keine Frage, wird man es herausfinden. Und zwar binnen kurzer Zeit.
„Chest pain unit“, das heißt übersetzt in etwa „Brustschmerzeinheit“. Stroke units, Einheiten zur Schlaganfallbehandlung, sind der Bevölkerung inzwischen längst ein Begriff, schon seit den 1990er Jahren werden sie schließlich in Deutschland aufgebaut. „Chest pain units“dagegen sind jünger und dürften daher weniger bekannt sein. Sie dienen der Versorgung von Patienten mit unklarem akutem Brustschmerz, für dessen Auftreten der Herzinfarkt eine wichtige, aber bei weitem nicht die einzige Ursache ist.
Seit 2008 gibt es Bestrebungen der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), solche Einheiten zu etablieren. Um die 300 sollen es werden, um über ein flächendeckendes Netz zu verfügen. „Chest pain unit“könnten sich zwar viele Einrichtungen nennen, meint Wöhrle, aber in der Zertifizierung durch die DGK liege ein wichtiger Unterschied. Die CPU an der Uniklinik Ulm, die Wöhrle leitet, ist zertifiziert – so wie inzwischen über 230 andere CPUs bundesweit.
Das bedeutet, dass sie von externen Gutachtern in Augenschein genommen und im Hinblick auf bestimmte, von der DGK vorgegebene Qualitätskriterien überprüft wurden: Ist in unmittelbarer Nähe ein Herzkatheterlabor vorhanden, in das der Patient gegebenenfalls rasch gebracht werden kann? Ist geschultes Personal im Hause? Gibt es eine ausreichende Zahl an Überwachungsplätzen sowie genügend interventionelle Kardiologen, die rund um die Uhr eine Versorgung mit Kathetermaßnahmen sicherstellen können? Eine CPU, sagt Wöhrle, müsse in der Lage sein, 24 Stunden täglich Patienten zu versorgen.
Wenn ein Patient mit akuten Brustschmerzen in eine CPU kommt, werden bei Infarkt-Verdacht sofort ein EKG und eine Blutentnahme veranlasst. Innerhalb von 30 Minuten seien die Ergebnisse da, was „Marker“im Blut wie das Troponin oder die Kreatinkinase betrifft, beides Substanzen, die bei einer Schädigung von Herzmuskelzellen freigesetzt werden. Das heißt aber natürlich nicht, dass die Herzinfarkt-Diagnose mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nimmt. Sehe man im EKG die charakteristischen Zeichen, wisse man sofort Bescheid, schon der Notarzt könne dies sehen, so Wöhrle. Für diese Patienten, bei denen die Sachlage ohnehin eindeutig ist, hat eine sofortige Untersuchung und Behandlung im Herzkatheterlabor Vorrang. Vier solcher Herzkatheterlabore hat das Universitätsklinikum Ulm, sodass zu jeder Tages- und auch Nachtzeit die sofortige Behandlung möglich ist, um ein verschlossenes Gefäß als Ursache eines Herzinfarktes rasch zu eröffnen.
Anders bei Patienten mit unspezifischer Symptomatik: Bei ihnen kann es länger dauern, bis die Ärzte Gewissheit haben. Der Ausschluss oder Nachweis eines Herzinfarktes brauche zwei Blutabnahmen binnen drei Stunden, wenn die Lage unklar sei, erläutert der Experte. Ein Teil der Patienten könne nach diesen drei Stunden wieder nach Hause, bei manchen sei eine weitere Abklärung auf eventuelle Engstellen in den Herzkranzgefäßen nötig. Insgesamt jedenfalls werde in der CPU bei etwa jedem vierten Patienten, der mit akutem Brustschmerz kommt, tatsächlich ein Infarkt diagnostiziert, wenngleich es noch eine Reihe weiterer Ursachen für akuten Brustschmerz gebe.
Die Liste der Möglichkeiten ist lang: Brustschmerz kann zum Beispiel auch durch Blutdruckkrisen, also einen starken Anstieg des Blutdrucks, Lungenembolien („Die Lunge ist das zweitwichtigste Organ für Brustschmerz“, sagt Wöhrle), Aortendissektionen (Einrisse der Hauptschlagader) oder – als seltenere Ursache außerhalb des HerzKreislauf-Systems – Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes ausgelöst werden. Und gerade bei Frauen gibt es manchmal nach starker emotionaler Belastung das Takotsubo-Syndrom, das „Syndrom des gebrochenen Herzens“, berichtet Wöhrle. Es ähnelt in der Symptomatik verblüffend einem Infarkt, doch die Herzkranzgefäße sind nicht verschlossen.
Stichwort Frauen: Beim weiblichen Geschlecht ist die HerzinfarktSymptomatik bekanntlich oft weniger charakteristisch als beim männlichen. Herzinfarkte bei Frauen machen sich „im Vergleich zu Männern häufiger mit sogenannten unspezifischen Symptomen bemerkbar – zum Beispiel mit starker Kurzatmigkeit, Übelkeit, Erbrechen oder auch mit Beschwerden im Oberbauch“, informiert die Deutsche Herzstiftung. Insbesondere, „wenn solche Zeichen in zuvor noch nicht gekannter Heftigkeit auftreten, ist es daher wichtig, auch an einen Herzinfarkt zu denken“, heißt es dort.
Wöhrle bestätigt das. Frauen zählten folglich explizit zu jenen Patienten, die man in einer CPU besonders sorgfältig untersuche. Und es gebe noch einen Punkt, der die Infarkt-Diagnostik erschweren könne: die Zuckerkrankheit. Da sie die Nerven schädigt, werde ein Brustschmerz von Diabetikern oft gar nicht so dramatisch wahrgenommen. Gerade dann aber, wenn die Symptome unspezifisch sind, ist ihre Abklärung in einer CPU, die die Patienten rasch an die für sie richtige Stelle weiterleitet, von großer Bedeutung.
Was ist der Vorteil, wenn ein Patient mit unklarem Brustschmerz anstatt in die normale Klinik-Notaufnahme direkt in eine „Chest pain unit“kommt? Nach Ansicht Wöhrles sind es die standardisierten Abläufe, denn „was standardisiert ist, führt schneller zum Ziel – zu einer schnelleren Ursachenabklärung und so auch zu einer schnelleren Behandlung“, erklärt er. Und wenn man die Statistiken über viele tausend Fälle ansehe, so hätten Patienten, die in eine CPU aufgenommen würden, auch eine bessere Prognose und ein besseres Überleben. Das bestätigt die DGK mit Verweis auf Daten aus Deutschland, USA und England und erklärt, es würden auch die durchschnittliche Liegedauer und die Kosten vermindert.
Viele Vorteile also für Brustschmerz-Patienten - aber bei einem grundlegenden Problem sind sie weiterhin selbst gefragt: bei der zeitlichen Verzögerung, zu der es kommt, weil sie zu spät den Notarzt alarmieren. „Am meisten Zeit wird beim Herzinfarkt verbummelt durch den Patienten selbst, der sich nicht traut, die in Deutschland exzellente Notfallkette zu aktivieren“, warnt Wöhrle.
Schaffe man es, ein verschlossenes Herzkranzgefäß binnen einer Stunde wiederzueröffnen, entstehe kein Schaden am Herzmuskel. Setze der Schmerz dagegen in der Nacht ein und warte der Patient bis zum Morgen, sei möglicherweise viel Muskelgewebe unwiederbringlich verloren gegangen.
Daher lautet der ärztliche Appell, früh den Notarzt zu rufen. Oder sich notfalls telefonisch in einer CPU zu melden, „dann kann man ihn im Zweifelsfall beraten“, sagt Wöhrle und erklärt: „Lieber können wir einen Patienten nach drei Stunden Aufenthalt beruhigt entlassen, als dass durch ein Zögern seitens des Patienten ein Herzinfarkt spät behandelt wird.“Sich selbst ans Steuer setzen und zur CPU fahren solle ein Patient aber nicht: Zu groß sei die Gefahr, dass unterwegs etwas passiert. „Da hat es schon tragische Fälle gegeben“, so Wöhrle. „Das wäre keine gute Idee.“