Lesestoff zum Nachdenken
Prozess Warum sich ein 21-Jähriger im Amtsgericht mit einem Buch über den Nationalsozialismus beschäftigen und eine Inhaltsangabe machen muss
„Es spricht nichts gegen eine kreative Urteilsfindung“, kommentierte Amtsgerichtsdirektor Walter Henle seine Entscheidung im Verfahren gegen einen 21-Jährigen. Der Auszubildende hatte in ziemlich betrunkenem Zustand bei einer Abi-Party „Heil Hitler“gerufen, Polizisten beleidigt und gegen seine Personalienfeststellung Widerstand geleistet.
Für diese Delikte musste sich der junge Mann aus dem württembergischen Aalen vor dem Jugendrichter verantworten. Die Abi-Party fand Anfang Juli vergangenen Jahres in Günzburg statt. Die Feier, an der nicht nur Gymnasiasten teilnahmen, lief aus dem Ruder. In einer Gruppe mehrerer junger Leute eskalierte wohl nicht zuletzt aufgrund reichlichen Alkoholgenusses die Stimmung. Ein höchst kritisches Umfeld, denn dort kamen unter anderem vom Angeklagten die verhängnisvollen Rufe „Heil Hitler“. Derartige Ausdrücke werden vom Gesetz als „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“verfolgt. Damit nicht genug: Als Polizisten, die zur Überwachung der Party eingesetzt waren, den jungen Mann überprüften, flippte der völlig aus, beschimpfte die Gesetzeshüter mit übelsten Ausdrücken und wehrte sich.
Der Anklagevorwurf sei richtig, räumte der 21-Jährige ein. Zum rechtsradikalen Gedankengut sei er durch eine ehemalige Freundin gekommen. Mit dieser Aussage war Jugendrichter Henle allerdings nicht zufrieden. „Haben Sie sich mit der Geschichte auseinandergesetzt?“, fragte er. Eine Antwort darauf blieb der Angeklagte schuldig.
Er hat einen Realschulabschluss und ist derzeit im zweiten Lehrjahr in der Metallbranche. Von seinem Einkommen – 710 Euro netto – gibt er, der noch zu Hause wohnt, 100 Euro Kostgeld ab. Wegen eines Freundes hatte er am 2. Juli den laut Richtermeinung „beschwerlichen Weg“über gut 70 Kilometer nach Günzburg auf sich genommen. Dort wurde reichlich Alkohol konsu- miert, Bier und Wein, teils sogar mitgebracht, so der 21-Jährige. Ergebnis: Die Blutalkoholmessung ergab fast drei Promille. Für das Verhalten des Mannes bei der Abiparty überhaupt kein Verständnis hatte Henle: „Ich mag nicht, wenn Polizisten, die dort ihre Arbeitszeit einsetzen, während sie feiern, angegangen und beleidigt werden.“
Mit dem Gesetz war der 21-Jährige zuvor einmal in Konflikt gekommen. Das war 2013, aber das Fahren eines Rollers ohne Führerschein blieb damals folgenlos. Susanne Czudnochowski von der Jugendgerichtshilfe berichtete, dass der Angeklagte Grund- und Realschule besucht, diese aber mehrmals gewechselt habe, weil er Stress mit Lehrern und Schulleitung hatte. Nach dem Abschluss mit einem Notenschnitt von 3,3 folgte eine stabile Phase, in der er sogar Praktika in sozialen Einrichtungen absolvierte. Eine größere „Hausnummer“sei aber der intensive Alkoholgenuss. Die Gerichtshilfe plädierte für eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht mit Suchtberatung.
Er erwarte vom Angeklagten eine schriftliche Entschuldigung bei den betroffenen Polizeibeamten, sagte der Richter. Für die Staatsanwältin lag der Fall klar: Ausnahmsweise könne Jugendstrafrecht angewendet werden. Für Widerstand und Beleidigung sowie die Nazi-Rufe sei eine Verwarnung und eine Geldauflage von 300 Euro erforderlich. Es handle sich um eine üble Geschichte, bestätigte Rechtsanwalt Klaus Grimbacher (Aalen) und schloss sich beim Strafmaß der Auffassung des Gerichts an.
Von der Geldauflage sah Jugendrichter Henle in seinem Urteil ab, der Angeklagte müsse ohnehin nach Günzburg zum Gericht fahren. Als besondere Auflage soll er dort das Buch „Der SS-Staat“von Eugen Kogon lesen und dann eine Inhaltsangabe abliefern. Wer dieses Buch lese, werde danach hoffentlich keine rechtsradikalen Gedanken mehr haben, so Henle. Eine schriftliche Entschuldigung bei den Polizisten, vom Angeklagten selbst verfasst, hält der Richter für selbstverständlich.